Die Kugel und das Opium
Zehntausenden, von heute aus gesehen lediglich ein paar Sandkörner, die in den endlosen Menschenmassen untergehen. Wo soll man sie suchen, wo finden?
Sun Liyong, ein Opfer des 4 . Juni, der nach Australien geflohen ist, hat nach unzähligen Mühen eine Liste von Gefangenen mit ein paar hundert Namen zusammengetragen. Ding Zilin und ihr Mann Jiang Peikun haben mit den Angehörigen von über 200 Opfern Kontakt aufgenommen und die »Bewegung der Mütter des Tiananmen« ins Leben gerufen, aber auch nach über 20 Jahren nicht mehr als 202 Namen von Todesopfern zusammentragen können.
Und ich mit meiner »Erinnerungsarbeit« habe erst nach sieben Jahren oft unterbrochener Bemühungen diese Interviews zusammenbekommen – »alte, historische Spuren und Wunden«, die von dem Ineinandergreifen von Geld und Macht verwischt werden, obwohl die Interviewten in ihrer Mutlosigkeit ihr eigenes Schicksal nicht so wichtig nehmen und obwohl ich auch selbst meine Zweifel habe, ob »diese Zeugnisse für morgen gemacht sind«.
Ich bin schon 53 , ich bin müde. Ich habe in über 300 Geschichten China von unten beschrieben. Wie ein Spieler habe ich mit geröteten Augen genau das geschrieben, was die Kommunistische Partei nicht geschrieben sehen wollte. So wie damals, als ich im Knast gesessen habe und zwischen zwei Todeskandidaten schlief, die Tag und Nacht ihren Frust bei mir abgeladen haben.
Der eine erzählte, wie und wann und warum er seine Alte in Stücke gehauen hatte, und wie geil es war, als er es eine Stunde lang mit der Leiche trieb. Der andere erzählte, wie er und wann getürmt war, durch die Mistgrube, und wie das gestunken hat. Ich wollte das nicht hören, meine Sinne spielten nicht mit, aber die beiden sagten, das komme nicht in Frage, ich müsse das hören, ich sei ihr letztes Publikum, da könne ich doch nicht einfach weghören. Nicht nur einmal, ich habe mir die Geschichten ein paar dutzend Mal anhören müssen, und wenn ich die beiden Scheißkerle loskriegen wollte, blieb mir nichts, als die Geschichten niederzuschreiben -- die Kommunistische Partei begreift solche Beweggründe nicht, der Polizist sagte immer nur zu mir: Aber Liao, was soll denn der Schwachsinn, die Regierung hat dir nur vier Jahre gegeben, das ist nicht viel, warum machst du dauernd Schwierigkeiten?
Einmal war ich ziemlich blau und habe zu ihm gesagt: Und selbst wenn, du Schwanzlutscher! Ich bin ein räudiger Hund in einem Schweinestall, wenn ihr den Mut dazu habt, dann lasst mich raus und Ausländer beißen.
Der Polizist war auch gut dabei und meinte: Du hast die Stirn, mich zu beleidigen? Das ist Rebellion! Dann hat er losgeprügelt, sie haben mir Handschellen angelegt und mich ins Gefängnis gebracht. Am Nachmittag des nächsten Tages haben sie mich freigelassen, der Polizist knurrte: Liao, in den letzten zehn, zwanzig Jahren war es doch nicht ich, der dich nicht aus dem Land gelassen hat, von mir aus kannst du hingehen, wo der Pfeffer wächst, das interessiert mich einen Scheißdreck.
Damals war ich jung und voller Wut, und obwohl ich herumschrie, ich wolle das Land verlassen, hatte ich doch nie die Absicht auszuwandern, selbst wenn die Politik mich in Schutz genommen hätte, hätte ich es nicht getan. Ich war ein wilder Köter, das war angeboren, in den Müllhalden am Ende der Straßen, dort kannte ich mich aus, dort wälzte ich mich herum, lag in der Sonne, grub den Abfall um, suchte nach Geschichten. Ich lief jeden Abend fünf Kilometer, und biss die Zähne zusammen. Freunde nahmen mich auf den Arm, von wegen, der gute Liao trainiert so verbissen, der will die Kommunistische Partei zermürben. Und es stimmte, seit meiner Entlassung 1994 haben sie die Polizisten, die zu meiner Bewachung abgestellt waren, schon siebenmal ausgewechselt. Der arglose Polizist, den ich oben erwähnt habe, der, der mit mir gesoffen hat, ist längst gestorben. Wie ich gehört habe, an einer akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung, die Hilfe kam zu spät. Ich war richtig bewegt, er war nur ein Jahr älter als ich, und auch wenn er mich eingesperrt und ein paarmal meine Wohnung durchsucht hat, meinte er es gut mit mir.
Im Herbst 2004 wurde ich zum zweiten Mal geschieden, anschließend wurde ich wegen eines Interviews mit Mitgliedern der Falun Gong, die eine Petition eingereicht hatten, von der Geheimpolizei unter Hausarrest gestellt. Reines Pech – als die beiden Frauen in ihren abgewetzten Kleidern und mit ihren traurigen Gesichtern an der Tür klopften,
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