Die Kugel und das Opium
kein Schwein so länger leben.
Ich sagte immer wieder: Das Leben zwingt uns, das Leben zwingt uns.
Er meinte: Ich habe das Dasein auf dieser Welt durchschaut, bin auf den Hühnerkrallenberg und habe mich aus dem weltlichen Leben zurückgezogen. Das ist ein einzigartiger Ort, so etwas gibt es nicht noch einmal. Ich hätte nie gedacht, dass auch die Buddhisten den politischen Hintergrund jedes Einzelnen durchleuchten. Der gewissenhafte Meister hat nach den Verwaltungsrichtlinien jeden Neuzugang beim Amt für religiöse Fragen gemeldet, mehrfach meinen Lebenslauf durchforstet, und im Nu kam mein persönlicher Hintergrund als »konterrevolutionärer Rowdy« an den Tag, die Mönche waren vor Schreck ganz neben der Kappe. Keine Chance also, selbst dort, wo »Alles ist leer« galt, ging nichts, ich musste weiter durch die Gegend ziehen.
11
Im eigenen Land herumvagabundieren? Und die Diktatur saß weiter auf dem hohen Ross. Alle Passanten waren verwirrt. Ein Glück, dass ich Bücher schrieb, mein Acker war alles, was je geschrieben worden war, ein fruchtbares Land.
Ich sollte mich verabschieden von 1989 ; sollte mich verabschieden von dem großen Massaker vom 4 . Juni, das mich so lange in seinen Bann geschlagen hat. Ich schlug mich nun schon ein halbes Leben mit meinen Albträumen herum, hatte das irgendeinen Sinn?
Ich trage diese »Zeugenaussagen« mit mir herum. Weiter, geh weiter. Die Rufe sind längst verstummt. Die Tränen sind verrostet. Die Wege in den Bergen sind gewunden. Die dunklen Wolken sind wie Segel, die über dem Scheitel verharren. Ist das ein Traum? Ich stelle das Handy ab, nehme die Batterie heraus, man hat mir gesagt, nur so kann man der Verfolgung entgehen, aber gleichzeitig entzieht man sich so auch der Fürsorge der Angehörigen.
Am ersten Abend, nachdem ich untergetaucht war, noch in der Altstadt von Dali, habe ich mit meinen üblen Kumpanen getrunken. Mir gegenüber saßen zwei von den sogenannten gutaussehenden Schriftstellerinnen, die nach 1980 geboren waren, sie vertrugen mehr als die Männer, sie waren konfuser als die Männer, und doch zeigten sie mit dem Finger auf mich und beschimpften mich als Arschloch. Was sollte ich machen, ich warf den Tisch um. Alle lobten mein Temperament, alle fanden, ich würde mich noch eine ganze Weile auf dem Erdenrund herumtreiben.
Ich werde nie erfahren, wie viele heimliche Informanten es gegeben hat. Aber mir dabei zuzusehen, wie ich mich Nacht für Nacht betrank, wie ich keiner geregelten Arbeit nachging, war auf die Dauer auch ermüdend. Und so war ich auf einmal weg, ich habe mich nicht umgedreht.
Der Überlandbus erreichte eine andere Stadt, ich suchte mir irgendeine Kaschemme, wo ich für zwei Nächte unterkam, entschlossen, keine Spuren zu hinterlassen. Weiter, immer weiter, rief ich auch im Traum. Es war noch nicht hell, und ich war mit meinem Bündel auf dem Rücken weg; es war schon dunkel, als ich irgendeine Stadt an der Grenze erreichte.
Es blitzte, donnerte und goss in Strömen. Ich quartierte mich in einem Wirtshaus ein und nahm Kontakt auf zu dem Mann aus dem Grenzgebiet, der mich in Empfang nahm. Er kam behäbig auf mich zu. Wir steckten für eine Viertelstunde die Köpfe zusammen, er meinte, es sei sehr einfach, illegal auszuwandern, mit einem Boot über den Fluss, das gehe. Die Polizei schere das nicht, wir müssten ihr nur zeitig »Zoll« bezahlen. Ich sagte, ich wolle mich nicht in ein Boot setzen, ich wolle über eine Brücke gehen.
Er zögerte, meinte, das sei ein bisschen mit Schwierigkeiten verbunden, ich könne es aber trotzdem probieren.
Und wenn es nicht klappt?, fragte ich.
Versuch es erst mal, sagte er. Wenn es nicht klappt, haben wir immer noch das Boot.
Und wenn sie mich schnappen?, fragte ich.
Ich passe von weitem auf, sagte er, wenn ich sehe, dass etwas schiefläuft, komme ich und lege ein gutes Wort ein.
In dieser Nacht litt ich nicht unter Schlaflosigkeit. Obwohl es in der Finsternis dreimal an der Tür klopfte. Wie im Tran kam ich hoch und sackte wieder zurück, öffnete die Tür immer nur einen Spalt. Beim ersten Mal sah ich eine triefnasse Frau, die im Dialekt von Beijing sagte: Kann ich reinkommen, Herr Wirt? Es regnet.
Ich sagte: Nein.
Das zweite Mal sah ich wieder eine triefnasse Frau, die nun im Dialekt von Yunnan fragte: Kann ich reinkommen, Herr Wirt? Es regnet.
Ich sagte erneut: Nein.
Das dritte Mal sah ich eine ganz trockene Frau, die im Dialekt von Chongqing sagte: Landsmann, lass
Weitere Kostenlose Bücher