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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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dachte ich, das sind Bettlerinnen. Ich habe sie aus reiner Menschlichkeit hereingelassen und aus reiner Gewohnheit die schlimme Geschichte von ihrer Verbringung in eine Nervenheilanstalt aufgenommen – eine Woche später ist die Polizei bei mir aufgetaucht, als ob sie es gerochen hätten. Immer wieder bebte die Tür, aber es war eine Sicherheitstür, sehr solide und nur mit Tritten und Fäusten nicht einzuschlagen. In aller Eile kramte ich Scheckkarte und Ausweis aus der Schublade, zwängte mich durch das Fenster in der Küche und habe mich an zwei rostigen Drahtseilen durch den Kamin aufs Dach gezogen. Als ich mich am Rand der Wasserrinne hochzog und das rechte Bein nach oben warf, rutschte die linke Hand langsam ab. Von einem Moment auf den anderen war ich in kalten Schweiß gebadet! Das war das sechste Stockwerk, wenn ich abrutschte, war ich Hackfleisch mit Hirn.
    Noch in derselben Nacht habe ich mich durch den dichten Nebel aus Chengdu davongemacht, dann aus Sichuan, mich in Yunnan versteckt und erst wieder sehen lassen, als der Sturm vorüber war. Ich hatte dauernd Wadenkrämpfe, wenn ich mich bückte, schrie ich vor Schmerzen. Ich dachte, wenn ich wirklich als Bulette geendet wäre, wäre das doch zu wenig gewesen. Was für ein Glücksspiel hatte ich denn in den ganzen Jahren gespielt? Was für ein Spiel war das, das ich als Herumtreiber und Strolch mit der Regierung spielte? Diese Bande von Falken kannte sich aus mit Übeltaten, sie waren auch gut darin, das Gesicht zu wechseln, es konnte sein, dass sie eines Tages schneller auswandern würden, als wir geflohen waren.
    Aber so, wie die Dinge standen, gab es keinen Weg zurück. Ich bin Wu Wenjian, ich bin den versprengten Opfern des 4 . Juni dankbar, ganz unabhängig davon, ob sie mir ein Interview gegeben haben oder nicht, sie alle haben meinem düsteren Leben, das nun begann, einen nicht erwarteten Impuls gegeben. Vielleicht wirkte ich auch nicht besonders anständig, es gab einen »Rowdy«, der mich schon nach der dritten Runde unverhohlen fragte, ob ich schon einmal mit Prostituierten zu tun hatte. Als ich keinen Mucks von mir gab, tröstete er mich: Macht nichts, Chen Duxiu, der Gründer der Kommunistischen Partei Chinas, ist auch zu den Huren gegangen.
    Ich sagte, wenn ich da von der Polizei erwischt würde, das gäbe ein Rauschen im Blätterwald. Da kicherte er auf einmal: Vorne Angst vor dem Wolf, hinten vor dem Tiger, das zeigt, dass du ein alter Sack bist.
    Ich war ein alter Sack. Die Generation der Opfer von 1989 war in ihrem Leiden an diesem Land alt geworden. Und Liu Binyan, Wang Ruowang, Wang Ruoshui, Ge Yang und all die anderen, die wegen des Massakers ins Exil gegangen waren, gehörten der Vergangenheit an; sie waren alle über achtzig und starben nach und nach in der Fremde.
    An einem Wintertag 2009 traf ich per Zufall in dem sonnenglänzenden Dali in Yunnan auf ein paar »Rowdys« vom 4 . Juni, ein großer Kerl von 43  Jahren, der schon seit fünf Jahren wieder draußen war, erzählte mir: Drinnen gab es jedenfalls einen »Verein der Rowdys«, wir haben uns gegenseitig Mut gemacht, und wenn es noch so schwer, noch so bitter ist, man darf den Willen nicht aufgeben und muss durchhalten bis zu seiner Rehabilitation. Als wir draußen waren, hatte sich alles komplett verändert, jeder musste sehen, wo er bleibt. Ich konnte mich in Beijing nicht über Wasser halten, die Kameraden haben mich nach außerhalb empfohlen, erst war ich in einer illegalen Betriebsanlage in Dongwan in Guangdong, dort habe ich fingierte Lebensmittel hergestellt und Instantnudeln in Abfallöl gebraten; das war kein gutes Geld, das ich da verdiente. Ich wollte das nicht mehr machen und bin nach Yunnan weitergezogen und habe für eine Geheimgesellschaft den Türsteher gemacht. Wir hatten dicke Arme und runde Hüften, man sah auf den ersten Blick, dass wir im Knast gewesen waren. Deshalb wagte es keiner von den normalen Strolchen, irgendeinen Ärger zu machen. Ziemlich öde. Einmal habe ich mir alleine die Kante gegeben. Als ich voll war, habe ich in meinem Zimmer gegen die Wand geschlagen und geflennt und geheult. Ich dachte an damals, ich war auch so ein ungewöhnlich anständiger Kerl, eine Reihe Panzer kam vorbei, ich habe mich ihnen als Erster in den Weg gestellt, als lebendige Mauer, ich habe nicht mit der Wimper gezuckt. Ich bin sogar auf einen raufgeklettert und habe ein MG abmontiert. Und jetzt war ich vor die Hunde gegangen, auch wenn ich gut aß, so wollte doch

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