Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Dass ich heute mit dir darüber spreche, ist Linderung und Befreiung, denn in meinen Kreisen glaubt niemand an derlei Spielereien.
    LIAO YIWU:
    Buchhändler auf dem zweiten Buchmarkt, das heißt, jeder schuldet jedem etwas.
    LI QI:
    Warte, bis ich niemandem mehr etwas schulde, dann ziehe ich mich wieder zurück und lerne richtig schreiben. Im Augenblick kann ich nichts machen als Geld zählen – das ist es wahrscheinlich, was meine Ex am liebsten gesehen hätte.

Wu Wenjian,
der Maler des Massakers
    Am Nachmittag des 26 . Mai 2005 , es war ein Donnerstag, habe ich durch Vermittlung der Brüder Gao, beides Künstler, in dem Künstlerdorf 798 , einem Fabrikgelände im Dashanzi-Gebiet in Beijing, den aus der Arbeiterschicht stammenden Maler Wu Wenjian interviewt.
    Es war ein heiterer Tag, Wu trug ein feuerrotes Hemd und war offensichtlich bester Dinge und voller Elan. Der Winter war vorüber, und die Gao-Brüder luden uns zu einem Essen der Küche des Nordwestens ein. Ich brauchte ihn nicht erst zu überreden, Wu machte am Rande des lärmenden Esstisches die Plaudertasche auf – es schien, sein Text war schon längst fertig. Nach dem Essen suchten wir einen abgeschiedeneren Ort, damit er sich weiter aussprechen konnte.
    Am Vorabend des 4 . Juni 1989 war er erst 19 , voller Mut und Energie hatte er sich der Kunst verschrieben und ist aus reiner Dummheit in die patriotische Bewegung verstrickt worden. Er wurde Augenzeuge von einigen blutigen Szenen, die sich in den Straßen Beijings abspielten, und wäre selbst um ein Haar ein Opfer der großen Schlagstöcke geworden.
    Wenig später befahl der Staat dem Volk, den Mund zu halten, aber das hat er nicht getan. Deshalb ist er verhaftet und zu sieben Jahren verurteilt worden. Da er weder Student war noch zur Elite gehörte, konnte man ihn nur zu den Unruhestiftern und Rowdys stecken: »Diese Leute waren wie die, die du, Liao Yiwu, am Bodensatz der chinesischen Gesellschaft ausgegraben hast, ohne Geschichte, ohne gesellschaftliches Gesicht; sie wussten nicht, wie sie sie verorten sollten.« Er seufzte: »Das sind jetzt sechzehn Jahre, keiner steht auf und erhebt für sie die Stimme, sie haben umsonst gelitten.«
    Ich sagte: »Würde es dir etwas ausmachen, mich mit einigen von diesen Leuten zusammenzubringen?«
    Er sagte: »Nach zehn, zwanzig Jahren im Knast sind aus den Tigern Mäuse geworden, sie haben aufgegeben.«
    Ich schwieg einen Augenblick, nahm die handgroße Kamera und machte ein Bild von Wus traurig-wütendem Gesicht. Um die Wahrheit zu sagen, auch ich hätte die Zehntausenden von offiziell als »Rowdys« bezeichneten Menschen, die die Hauptkraft des 4 . Juni gebildet haben, fast vergessen, ganz zu schweigen von der Frage, wie man sie heute verorten solle. Die Texte wurden von den Helden der Stunde geschrieben, ich habe jedes Jahr eine ganze Reihe davon auf ausländischen Internetseiten gelesen.
    Es war schon nach Mitternacht, bis Wu nolens volens ruhiger wurde. Wir verabschiedeten uns an einer Straßenecke, in der Jacke hatte ich einen Packen Ölbilder vom Blutbad auf dem Tiananmen. Jedes Jahr brachte Wu den Albtraum auf die Leinwand, aber er hat keines der Bilder je zum Verkauf angeboten. Er sagt: »Warte! Ich habe sechzehn Jahre gewartet!«
    »Warten?« Ich stutzte. Das Taxi fuhr los. Die Straßen, die einmal Bühne der Geschichte gewesen waren, blieben hinter mir zurück. Ich musste an ein Gespräch mit Frau Professor Ding Zilin vor über einem halben Jahr denken, sie sagte, dass, wenn die Leute vom 4 . Juni tatsächlich eines Tages rehabilitiert und entschädigt würden, dann sicher die »Helden« in Beijing plötzlich aus allen Spalten und Ritzen kommen würden. Wenn wir dann noch am Leben seien, würden wir uns irgendwohin, weit weg, zurückziehen und den Jahrmarkt der Eitelkeiten anderen überlassen – die Seelen unserer Kinder müssten einmal wirklich Ruhe finden.

    LIAO YIWU:
    Gestern habe ich den Älteren der beiden Gaos getroffen, er hat mir von einem sehr interessanten Maler erzählt, der in den 4 . Juni involviert und als Rowdy für mehrere Jahre eingesperrt gewesen sei, seit seiner Entlassung ausschließlich Bilder zum Thema Massaker male und kein gutes Verhältnis zu unserer vergesslichen Zeit habe.
    WU WENJIAN:
    Ich male Reklamebilder, davon lebe ich, ein mechanisierter, hirnloser Job; aber meine Leidenschaft ist hier, die Zeit ist vergangen, aber sie ist zu einem Stein geronnen, einem Stein, der in der Hand brennt, seit sechzehn Jahren.

Weitere Kostenlose Bücher