Die Kugel und das Opium
Straßenrand aus eine Weile zu und habe ein paar Kuai gespendet.
LIAO YIWU:
Da warst du noch Beobachter.
WU WENJIAN:
Viele von denen, die sie nachher Rowdys genannt haben, waren da noch reine Zuschauer, ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich mich demnächst da einreihen würde.
LIAO YIWU:
Ab wann hast du dann konkret mitgemacht?
WU WENJIAN:
Ich unbedeutende Figur bin da hineingeraten wie ein Sesamkorn in den Suppentopf, deshalb kann von »mitmachen« keine Rede sein. Zu diesem Zeitpunkt war auf dem Tiananmen noch fast niemand, der Rummel konzentrierte sich auf das Gebiet der Wangfujing. Und da ich nun einmal davon träumte, Maler zu werden, hatte ich keine große Lust mehr auf Arbeit. Solange nichts anlag, habe ich mich gern in der Stadt herumgetrieben, die Ohren gespitzt und die neusten Gerüchte aufgeschnappt.
Erst am 20 . Mai, als Li Peng, das Arschloch, den Ausnahmezustand verhängt hat und die Truppen sich bereitmachten, auf verschiedenen Wegen in die Stadt einzudringen, hat die Beijinger Bevölkerung angefangen, laut die Studenten zu unterstützen. An dem Tag hat auch Yan-Petro eine großangelegte Demonstration organisiert, zu der wir uns zunächst am Bahnhof getroffen haben. Damals wogte ein Menschenmeer vom Chang’an-Boulevard bis zum Tiananmen, es ging turbulenter zu als bei den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag, wir liefen mit der Menge mit, ganz Feuer und Flamme, doch ohne jeden politischen Impuls. Viele Menschen waren wie ich in ihren Köpfen ganz unschuldig: Da ging es nur um Patriotismus und die Unterstützung der Studenten.
LIAO YIWU:
Wie oft hast du an Demonstrationen teilgenommen?
WU WENJIAN:
So an die viermal. Als es auf dem Tiananmen turbulent wurde, war ich unglaublich aufgeregt, bin manchmal in die Stadt gegangen und habe die Nacht auf irgendeinem Rasen kampiert. Nach den Demonstrationen vom 20 . Mai war die Frage: »Wobei können wir als Arbeiterklasse den Studenten helfen?« Woraufhin sie mich zum Tiananmen-Hauptquartier geschickt haben, um das in Erfahrung zu bringen. Ich war ein Hitzkopf, krempelte die Ärmel hoch, und los. Damals hatten sie sechs, sieben Blockaden errichtet, es war wirklich ziemlich ernst. Ich hatte meinen »Arbeitsausweis« in der Tasche, und jedes Mal, wenn ich angehalten wurde, habe ich den herausgezogen und ihnen irgendein Blabla erzählt. Es war gar nicht so einfach, bis zur letzten Straßensperre durchzukommen, und das sogenannte Hauptquartier, das ich dann zu Gesicht bekam, war am Fuß der Treppe, die zum Denkmal für die Volkshelden führt, ein paar Studentenführer mit wirren Bärten in aschgrauen, zerlumpten Klamotten. Da stand ich also, mit schiefem Kragen, und hatte nicht die geringste Ahnung, wer wer war. Ich sagte laut: »Ich bin ein Arbeiter von Yan-Petro, braucht ihr irgendwelche Hilfe? Wir sind ein Haufen Leute.« Die Studenten umringten mich und musterten mich ein Weile von oben bis unten, bis einer sagte: »Lass uns mal sehen!«
Ich wartete ein paar Minuten und wollte gerade wieder gehen, als man mir einen Zettel mit folgendem Inhalt reichte: »Geht bitte zur Nordostecke des Tiananmen und haltet dort die Ordnung aufrecht.« Unterschrieben war das Ganze mit »Yaoyuan vom Ständigen Ausschuss des selbständigen Zusammenschlusses der Beijinger Hochschulen«.
Daraufhin haben über hundert Leute von Yan-Petro an der Nordostecke des Platzes eine Nacht lang für Ordnung gesorgt. Damals ging es auf dem Platz aber auch wirklich drunter und drüber, denn als Li Peng den Ausnahmezustand ausgerufen hatte, kursierten alle möglichen Gerüchte. Die Bürger von Beijing waren nicht nur nicht verängstigt, im Gegenteil, das hat sie hochgebracht, und sie haben zu einem Wort vom alten Mao gegriffen: »Die Volksmassen sind aufgestanden.«
LIAO YIWU:
Wie viele Menschen waren da auf dem Tiananmen?
WU WENJIAN:
Es war ein Meer, wie soll ich das genau wissen? Ich wäre vor Müdigkeit fast umgefallen, aber diese plötzlich verdichtete Menschlichkeit hat mich berührt. Viele einfache Leute sind aus eigenem Antrieb auf den Platz gekommen, haben Wasser und andere Sachen gebracht. Da war dieser alte Herr, über siebzig, der von seiner Schwiegertochter gestützt wurde, er hat sich durchgekämpft und uns zwei große Packen in die Hand gedrückt. Die Schwiegertochter hat uns eine Erklärung zugeschrien: »Wir wollten den alten Herrn nicht herkommen lassen, er ist nur hier, um euch etwas zu essen zu bringen, ihn hat zu Hause nichts gehalten!«
Ich
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