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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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und im Fernsehen Tag für Tag Leute »ins Netz gegangen« und »hingerichtet worden«. Ich bin weiterhin zur Arbeit gegangen wie immer, ich bin nicht vor Gericht gestellt worden, ich habe nicht im Gefängnis gesessen, ich überließ alles meinem Glück. Bis zum Morgen des 23 . Juli, bis das Sicherheitsbüro unserer Einheit eine Mitteilung bekam, es anschließend von Polizei nur so wimmelte und ich auf der Stelle festgenommen wurde.
    Als ich im Untersuchungsgefängnis der Amtsstelle Fengtai ankam, warf man mir Hand- und Fußschellen vor die Füße. Ein paar Leute stießen mich zu Boden und tauschten die glattpolierten westlichen Handschellen gegen verdreckte Dinger aus heimischer Produktion; anschließend wurde ich an den Füßen gefesselt, der Hammer ging auf und nieder, bingbang, daumendicke Nieten wurden in den Eisenring geschlagen. Ich war vollkommen am Boden zerstört, ich fühlte mich schwach wie Nudelteig.
    LIAO YIWU:
    Du warst noch nicht verurteilt und hast die »Behandlung von Todeskandidaten« bekommen?
    WANG YAN:
    Ich hatte nach der »Säuberung des Tiananmen« einen Wagen in Brand gesteckt, das war ein »Hauptverbrechen, ein Verbrechen größter Abscheulichkeit«, und das bedeutete, die Todesstrafe war sicher. Wenn ich ihnen früher ins Netz gegangen wäre, zur Hochzeit der Erschießungen, wäre mir der Tod auch sicher gewesen – vielleicht hat wirklich im Jenseits ein Gott die Hand über mich gehalten und mir für nichts und wieder nichts das Leben gerettet. Anschließend war ich von meiner Inhaftierung im Juli bis zu meinem Urteil im Dezember immer in Ketten.
    LIAO YIWU:
    Ich habe mit Todeskandidaten in einer Zelle gesessen, das ist eine fürchterliche Zeit!
    WANG YAN:
    Ja, kurz darauf bin ich auch noch befördert und ins Untersuchungsgefängnis Nr. 7 der Stadt verlegt worden. Weil ich ein »sicherer Todeskandidat« war, konnten die Zellen noch so voll sein, sie haben mir immer so viel Platz gelassen, dass ich mich wenigstens ausstrecken konnte. Diesmal wurde ich nicht mehr geschlagen und war auch nicht den sonst Gefangenen gegenüber üblichen Schikanen ausgesetzt. Doch die geistige Qual hörte nie auf, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. Ich starrte vor mich hin und fand keinen Schlaf; die Lider fielen mir zu, aber im Kopf drehte es sich wie wahnsinnig im Kreis. Ich war erst vierundzwanzig und hatte schon weiße Stellen im Haar. Ich versuchte ständig zu fassen, was im Augenblick meiner Erschießung geschehen würde. Würde die Hirnmasse herausplatzen, und Schluss? War dann wirklich alles zu Ende? Und die Seele? Und die »Seelenwanderung«, von der in den buddhistischen Büchern die Rede war?
    LIAO YIWU:
    Was haben die um dich herum getan?
    WANG YAN:
    Herumgetobt. Wenn ein neuer »Strauchdieb«, wie sie das nannten, in die Zelle kam, wurde es besonders turbulent. Es gab eine Zeit, da konnten die Zellen die Massen nicht mehr fassen, aber es wurden weiter Leute hineingepresst, die Wärter draußen schrien herum, weiter drücken, weiter drücken, ihr seid doch alles Menschen, und Menschenfleisch gibt nach. Verdammte Scheiße, da war ein ganzer Trupp von Neuen, die mussten an der Wand straffstehen, wenn sie schlafen wollten, lehnten sie an der Wand und schliefen wie die Hühner im Stehen. Der Abtritt war in der Zelle, im Sommer war es stickig heiß, dazu klebte Fleisch an Fleisch, es dampfte und stank in Wellen, ein Gestank, der einem durch und durch ging. Was sollte man tun? Wie leben? Wie unter diesen höllischen Umständen die Zeit totschlagen?
    LIAO YIWU:
    Man muss den Geist zwingen, sich abzulenken.
    WANG YAN:
    Und ob. Wenn ein Neuer kam, wurde er bis auf die Haut ausgezogen; wir waren alle nackt, das war nichts Besonderes, aber die Neuen wurden nicht nur bis auf die Haut ausgezogen, sie mussten auch noch ihre Unterhosen mit den Zähnen halten und keuchend zwischen den Hüften der anderen damit den Boden wischen; man musste flink und robust sein wie eine Maus, sonst setzte es Hiebe. Und dann war da einmal so ein armer Wurm, den hat der Zellenboss gezwungen, vor der ganzen Mannschaft die Fadenwürmer, die er sich herausgedrückt hatte, zu fressen. Er hat insgesamt sechs Stück davon geschissen, sie zwischen die Finger genommen, sie waren noch am Leben, sie sich in den Mund gesteckt, knirschend gekaut, geschluckt und dann mit der üblichen Gemüseplörre nachgespült. Dabei durfte er kein unglückliches Gesicht machen, er musste es lächelnd tun, als wäre so ein Spulwurm mit Scheiße eine

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