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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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ausgesprochene Delikatesse.
    LIAO YIWU:
    Mein Gott, hör auf!
    WANG YAN:
    Ich bin ein paarmal zur Anklageverlesung gegangen. Am Tag meiner Gerichtsverhandlung war ich noch in Ketten. Ich machte mich darauf gefasst, sterben zu müssen, und habe außer dem, was ich am Leib trug, alles meinen Leidensgenossen in der Zelle vermacht. Im
Traum der Roten Kammer
wird Lu Zhizhen, der Held aus den Räubern vom Liangshan-Moor, in einer ähnlichen Situation mit einem Satz zitiert, der meiner damaligen Stimmung in etwa entsprach: »Nackt komme ich, nackt gehe ich, ganz ohne Sorge.« Ich hoffte nur noch, dass es möglichst schnell geht. Im Zusammenhang mit dem 4 . Juni sind so viele zu Unrecht umgekommen, ich wollte nicht mehr, als zu ihnen aufzuschließen.
    LIAO YIWU:
    Und dann?
    WANG YAN:
    Ich bin davongekommen! Ich habe es nicht geglaubt, aber ich bin davongekommen! Der Richter entschied auf lebenslänglich, ich war wie vor den Kopf gestoßen. Sollte ich Berufung einlegen? Natürlich habe ich es nicht getan. Sie haben mich zurückgebracht, immer noch in Ketten, aber innerlich war ich außer mir vor Freude, ich wäre beinahe abgehoben. Da gab es kein Vertun, es tat mir leid, aber hier wurde nicht gestorben, die Sachen, die ich verschenkt hatte, musste ich zurückhaben. Einschließlich der Decke, der Zahnpasta, der Klamotten, der Schüssel, ich musste das alles weiter benutzen.
    Zurück in der Zelle sollten mir, wie es Vorschrift ist, die Fesseln abgenommen werden, aber niemand kümmerte sich darum, ich wusste gar nicht, was das wieder sollte. Nach zehn Tagen war die Berufungsfrist abgelaufen, ich habe mir noch eine Unterhose in Stücke gerissen und sorgfältig die Hand- und Fußschellen gewienert. Ich habe sie eine halbe Ewigkeit bewundert, hab die Ringe gegeneinandergeschlagen, das klang schön.
    Tags drauf wurde draußen mein Name gerufen. Ich habe mich vor allen mit den Händen vor der Brust verneigt, habe meine Decke zusammengepackt und bin raus, sie haben mich in das Nr. 1 in Beijing verlegt. Das ist ein altes Gefängnis, das in den fünfziger Jahren mit Hilfe der Sowjetunion gebaut worden ist. Direkt vorne ist das »Schildkröten-Gebäude«, zwei Stock hoch, mit einem elliptischen Dach und von einem dichten Eisenzaun umgeben. Als sie meine Fesseln sahen, tuschelte der Beamte, der mich in Empfang nahm, noch etwas von: Was ist denn das? Mein Begleitmann sagte lachend, der sollte eigentlich längst hin sein, ist er aber nicht, deshalb kommt er in Ketten hier an.
    So hat die Umerziehung durch Arbeit angefangen. Zuerst haben sie einem den Kopf kahlgeschoren, einen in Gefängnisklamotten gesteckt und einem ein Namensschild verpasst, dann kam man in eine Tunnelröhre, wo man mit viel Gewisper und Geflüster die »Knastregeln« auswendig lernte. Wenn es einem aus den Ohren herauskam, fing man an, Federballschläger zu bespannen, im Lauf der Zeit hatte man davon Schwielen an den Händen. Auf beiden Seiten der Röhre reihten sich die Zellen, in den Zellen standen jeweils drei Etagenbetten, für zwölf Gefangene. Die Wärter zogen draußen ihre Kreise und betraten die Röhre normalerweise nie. Deshalb bildete sich hier so etwas wie ein abgeschlossener Machtbereich, in dem »Gefangene über Gefangene herrschten«. Die Zellen der Zellenbosse waren in der Regel nicht abgesperrt, sie bildeten Banden und Fraktionen und patrouillierten in der Röhre auf und ab. Wenn einer eine unzufriedene Miene machte, zogen sie ihn heraus und verprügelten ihn. Ein großer Knüppel brachte einem die Flötentöne bei. Schreien half gar nichts, die Wärter kümmerten sich grundsätzlich nicht darum. So ein Zellenboss war in diesen Mauselöchern der Kaiser, was die Familienangehörigen den Insassen an Dingen des täglichen Bedarfs schickten, daran haben sie sich als Erste bedient, was übrig blieb, war für dich.
    LIAO YIWU:
    Haben sie dich geschlagen?
    WANG YAN:
    Mir haben sie zwei heftige Ohrfeigen verpasst, wobei ich auch noch lachen musste. Die Zellenbosse waren ausnahmslos Mörder, Vergewaltiger, Menschenhändler und solches Gesocks. Eine ganze Reihe von uns »Rowdys« vom 4 . Juni sind von ihnen tyrannisiert worden. Bis zum 26 . Dezember 1990 , als ein paar hundert von uns Rowdys kollektiv in das Stadtgefängnis Nr. 2 von Beijing verlegt worden sind.
    LIAO YIWU:
    War es da besser?
    WANG YAN:
    Das Nr. 2 ist neu, relativ hell, nicht wie der Knast von den Sowjets, der war stockduster. Aber hier war die Arbeit einfach zu viel, laut den »Erfahrungen«

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