Die Kugel und das Opium
um sicher zu gehen, dass sich niemand an mich drangehängt hatte, erst dann konnte ich aufatmen.
LIAO YIWU:
Daraus, dass Sie nicht viel auf Ihr Äußeres geben, lässt sich schließen, Sie sind Künstler.
YU ZHIJIAN:
Danke für diese Anerkennung! Aber das Versteckspiel mit der Polizei gehört zum Instinkt der liberalen Kräfte, das hat mit Kunst nichts zu tun.
LIAO YIWU:
Sollen wir uns dann an die Arbeit machen?
YU ZHIJIAN:
Gut. Ich bin am 12 . August 1963 geboren, im Zeichen des Hasen. Mein Großvater starb, als mein Vater noch ein Kind war, meine Großmutter hatte keine Wahl, sie musste noch einmal heiraten, und mein Vater wurde zu so etwas wie einem lästigen »Waisenkind«, das sich im Alter von ein paar Jahren bei einem Grundbesitzer als Tagelöhner durchschlug.
LIAO YIWU:
Das ist bitter. Und ein geeignetes Objekt für die Kommunistische Partei.
YU ZHIJIAN:
Unsinn. 1948 war mein Vater um die sechsundzwanzig, er spielte um Geld, verlor alles, also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich als Rekrut zu verdingen, um seine Schulden von ein paar Dutzend Silberdollar zu begleichen. 1949 , am Vorabend der Befreiung, haben die Republiktruppen, bei denen er war, sich der revolutionären Strömung angepasst, sie haben friedlich rebelliert und wurden samt und sonders zu kommunistischen Truppen. Wenig später haben wir Korea im Krieg gegen Amerika unterstützt, mein Vater ist mit seiner Truppe nach Korea, wo er sich reichlich vier Jahre herumtrieb und als Sieger zurückkehrte. Mein Vater fand, er sei nun nicht mehr zu jung, um sich eine Frau zu suchen, so ließ er sich kurzerhand demobilisieren und kehrte in seine Heimat Liuyang zurück.
LIAO YIWU:
Die Geschichte Ihres Vaters ist ja ein ganzer Roman! Was hat er denn bei der Armee gemacht?
YU ZHIJIAN:
Mein Vater hat echte Hunan-Küche gekocht, erst für die Republiktruppen, dann für die Kommunisten. Auf dem koreanischen Kriegsschauplatz war er zudem leitender Militärkoch. Nach seiner Heimkehr hat er speziell für das Kasino der Divisionskommandeure gekocht.
LIAO YIWU:
Das ist aber mal eine gute Gelegenheit, um voranzukommen und es zu etwas zu bringen.
YU ZHIJIAN:
Die Leute damals hatten nicht so hochgesteckte Ideale. Deshalb ließen die Kommandeure ihn nur ungern gehen, als mein Vater sich ausmustern ließ. Kurz, mein Vater ist nach Hause und hat meine Mutter geheiratet. Nach der Klasseneinteilung stammten beide aus der arbeitenden Bevölkerung, anschließend kamen meine Schwester, ich und mein kleiner Bruder als Nachwuchs der arbeitenden Bevölkerung zur Welt.
LIAO YIWU:
Konnten Ihre Eltern lesen und schreiben?
YU ZHIJIAN:
Wo meine Mutter herkam, war die Geburtenrate am höchsten und die Überlebensrate am niedrigsten. Auch sie waren zu Hause arm, sie konnte nicht einmal den eigenen Namen lesen. Mein Vater hat bei der Armee den Hut des Analphabetismus abgestreift und konnte einfache Lehrbücher lesen.
LIAO YIWU:
Waren Sie als Junge sehr frech?
YU ZHIJIAN:
Als mein Vater mich gezeugt hat, war er schon Anfang vierzig. Ich war ganz normal und habe mich in nichts besonders hervorgetan. Vor der Kulturrevolution war ich noch zu klein; als im Radio verkündet wurde, dass der Vertraute und Nachfolger des Vorsitzenden Mao, der große stellvertretende Oberkommandierende der chinesischen Streitkräfte Lin Biao, Hochverrat begangen hatte, zum Feind übergelaufen und sein Flugzeug explodiert war, ging ich erst in die zweite Klasse. Ohne das Ganze wirklich zu begreifen, war ich genauso angespannt und erregt wie die Erwachsenen, traf meine kleinen Freunde, und wir flüsterten uns in die Ohren, tuschelten den halben Tag herum und vergaßen auch nicht, uns am Ende einzuschärfen: Kein Wort an niemanden! Kein Staatsgeheimnis ausplaudern!
LIAO YIWU:
Auch die Kinder waren so politisiert?
YU ZHIJIAN:
Das war die Atmosphäre des Terrors. An der Bretterwand der Toilette außerhalb der Schule stand mit Kreide eine reaktionäre Parole: Nieder mit dem Vorsitzenden Mao! An diesem Tag habe ich die Hose heruntergezogen, mich hingehockt, den Kopf gedreht, und da habe ich es gesehen. Ich zitterte vor Schreck am ganzen Körper, ich konnte nicht einmal mehr kacken. Ich habe die Parole sofort weggewischt, wenn mir jemand nachgekommen wäre und mich dabei ertappt hätte, was ich da tat, was dann?
LIAO YIWU:
Hat das ein Erwachsener geschrieben?
YU ZHIJIAN:
Nach dem kindlichen Schriftzug zu urteilen, hatte das einer von meinen Altersgenossen geschrieben. 1976 starb Mao
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