Die Kugel und das Opium
Zedong, das ganze Land trauerte, auch wir Schüler trugen Trauer, legten Kränze nieder und hielten Trauerkundgebungen ab. Wir standen dumm in der sengenden Sonne, es war ein Wettkampf im Ausstoßen von Klagelauten, wer am lautesten heulte, hatte gewonnen, aber es sind doch auch eine ganze Reihe von uns in Ohnmacht gefallen. Vermutlich dehydriert.
LIAO YIWU:
Haben Sie auch laut geheult?
YU ZHIJIAN:
Natürlich wolle ich da keine Schwäche zeigen. Wenn man klein ist, weiß man nicht, was Trauer ist, doch alle heulten, also infizierte das Klagegeschrei auch mich. Bei der älteren Generation war das anders, die empfanden wirklich etwas. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Tag freihatte, und als ich nach Hause kam, sah ich, wie sich mein Vater die Tränen aus dem Gesicht wischte, er war am Boden zerstört, und er weinte und klagte, ach, Vorsitzender Mao, du bist heimgegangen, was sollen wir jetzt machen?
LIAO YIWU:
Sie sollten sich nicht über ihren Vater lustig machen.
YU ZHIJIAN:
Ich mache mich nicht lustig. Genauso war es.
LIAO YIWU:
Waren Sie gut in der Schule?
YU ZHIJIAN:
Es ging so. Trotzdem habe ich zu Hause nie Hausaufgaben gemacht. Meine Leute wussten, dass ich faul bin, keiner glaubte, dass ich es auf die Universität schaffen würde. Bis der »Zulassungsbescheid« kam und mein Vater meinte, ich wüsste nicht, dass unsere Ahnengräber gequalmt hätten, da wir auf einmal einen Universitätsstudenten haben. Ich bin dann auf die Fachhochschule für Erziehungswissenschaften in Xiangtan und habe Chemie studiert. Doch da ich ein literarischer junger Mann war, hatte ich keinerlei Interesse an Chemie, also wurde ich nicht versetzt und habe für das dreijährige Spezialstudium vier Jahre gebraucht. Über die Hälfte meiner Zeit an der Universität habe ich in der Bibliothek zugebracht und gelesen, die Gedichte der klassischen Romantik von Heine und Byron haben mich am meisten beeindruckt.
LIAO YIWU:
In den achtziger Jahren hat alle Welt Gedichte geschrieben.
YU ZHIJIAN:
Wie ich auch. Außerdem hatte ich über meinem Bett ein paar weibliche Aktskizzen hängen. Das durfte man natürlich nicht, es gab eine Großversammlung, und ich wurde kritisiert, ich würde ins Internet gehen, zu irgendwelchem Pornodreck, sei sittlich verkommen, geistig verschmutzt, es hat nur noch gefehlt, dass sie mich als Vergewaltiger beschimpft hätten. Ich wurde von oben bis unten mit Dreck beworfen, man gab mir keine Möglichkeit auszuweichen, und am Ende bekam ich einen strengen Verweis.
LIAO YIWU:
Auf der Mittelschule habe ich auch einen schweren Verweis bekommen, ich weiß, dass nicht viel gefehlt hat, und ich wäre gefeuert worden.
YU ZHIJIAN:
Ach, vielleicht ist damals der Grundstein für das »kriminelle« Denken gelegt worden. Ich habe 1984 den Abschluss gemacht und bin dann irgendeiner Mittelschule auf dem Land als Lehrer zugeteilt worden, das hat noch weniger gepasst. Ich hatte lange Haare, trug modische weiße Freizeitschuhe, in der Stadt war ich schon ein bunter Hund, vom Land gar nicht zu reden. Daraufhin wurde ich aussortiert und auf eine Volksschule auf dem Land verschickt. Meine Herren, man konnte es aushalten, neben dem Unterricht habe ich gelesen und gelesen, geangelt und geangelt und mich langsam an alles gewöhnt.
LIAO YIWU:
Und dann?
YU ZHIJIAN:
In fünf Jahren bin ich fünfmal versetzt worden, immer Volksschulen auf dem Land. Wie in dem Film »Februar im Vorfrühling« [14] , wo ein kleiner Intellektueller am Ende aus einem toten feudalistischen Kaff flieht. 1988 habe ich gekündigt und bin zurück in die Stadt gegangen, ich hatte keinen Job und habe den ganzen Tag bei meinem Banknachbarn aus der Mittelschule Lu Decheng und dem alten Kommilitonen von der Pädagogischen Hochschule Yu Dongyue herumgehangen.
LIAO YIWU:
Hatten die alle Arbeit?
YU ZHIJIAN:
Lu Decheng war Busfahrer, Yu Dongyue Journalist bei der
Liuyang ribao,
dem Käseblatt von Liuyang. Wir drei hatten den gleichen Stallgeruch, wir haben Tag und Nacht über Literatur gefachsimpelt. Ich mochte die klassische westliche Romantik, Yu Dongyue war fortschrittlicher, er verehrte die Modernen und die Obskure Poesie, die in den achtziger Jahren so in Mode war. He, zwei Monate hatten sie keine Lust heimzugehen und haben bei uns zu Hause gepennt. Wenn ich heute daran denke, war das eine schöne Zeit! Bis Hu Yaobang am 22 . April 1989 starb und sich unsere Literaturbegeisterung im Handumdrehen sublimierte und »das chinesische Volk in seine
Weitere Kostenlose Bücher