Die Kugel und das Opium
heute, da die entsetzlichen Vorfälle vom 4 . Juni beinahe zwanzig Jahre her sind, habe ich es herausgekramt und bearbeitet. Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen. Ich weiß nicht, wie viele Rowdys vom 4 . Juni in dieser Zeit noch aus dem Gefängnis entlassen worden sind. Wie sieht ihr Überlebenskampf aus? Es muss am letzten Jahresende gewesen sein oder Anfang des Jahres, dass ich in Lijiang in Yunnan einen Rowdy getroffen habe, der, wie er sagte, in Beijing nicht hatte bleiben können und dem nichts anderes übrigblieb, als seiner Heimat mit einem Kameraden zusammen den Rücken zu kehren und hierher zu kommen und hier sein Leben zu fristen als Tennenwächter. Ich fragte ihn, für wen er auf welche Tenne aufpasse? Aber er kicherte bloß und sagte dann seufzend: Sterben ist leichter als leben.
Am 20 . Dezember 2005 , einem Dienstagabend, der kalte Wind geht einem bis auf die Knochen, bringt Wu Wenjian mich und Ban Zhongyi vom Shazikou am südlichen dritten Ring auf Umwegen zur Niustraße, wo wir aussteigen und auf einem Gemüsemarkt in der Nähe den Hauptdarsteller dieses Interviews aufsuchen, der gerade im Büro seiner Arbeit nachgeht: Liu Yi, ehemaliger Streikposten am Tiananmen, ein stämmiger, säulenartiger Mann. Wu stellt uns vor, der einundfünfzig Jahre alte Liu streckt seine großen Hände aus, wie Zangen, und drückt mich jäh zusammen. Hinter dem Tisch nimmt Ban Zhongyi, der eine Kamera in der Hand hält, diese glühende Winterszene fest.
Sechs Uhr, es ist bereits stockdunkel, und der Wind pfeift um die Straßenlaterne, die dasteht wie eine einsame Seele. Wir verlassen den Gemüsemarkt, und schon nach ein paar Schritten spüre ich, wie meine Beine starr werden. Der gute Liu sagt, an so trostlosen Tagen hält kein überirdischer Essstand den Zug aus, wir vergraben uns in die Erde. Daraufhin gehen vier Männer durch einen brunnenschachtartigen Eingang zwei Treppen unter die Erde. Durch die enge Türöffnung dringen die Geräusche von Mah-Jongg-Spielern, sentimentales Karaoke-Gesinge und zwei, drei Frauen von dubioser Herkunft. Wir halten einen Augenblick in einem kleinen Durchgang inne und treten dann durch einen türlosen Türrahmen in einen offenen Speiseraum, kaum größer als ein Abteil.
Trübe Grubenlampen, öligverschmierte Tische und Stühle, wir setzen uns wie selbstsichere Wanderarbeiter aus dem Dongbei-Gebiet im Nordosten, die gerade ihren Lohn bekommen haben, und bestellen einen großen Kessel mit Schmorknochen. Die Flamme darunter schießt mit einem Wusch heraus, Fettaugen schwimmen auf der Brühe. Der gute Liu fischt einen guten Knochen heraus, schlürft erst einmal genüsslich das Mark heraus, während ich es nicht erwarten kann, mein Notizbuch und mein Tonbandgerät herauszunehmen. Wu sagt kummervoll: Aber Liao, lass uns doch erst einmal ein paar Minuten etwas essen, wir reden schon noch über all diese unerfreulichen Dinge, keine Angst! Auch der gute Liu echot: Richtig, richtig, sonst schmecken einem die besten Sachen nicht mehr.
LIU YI:
Ich will zunächst einmal sagen, was ich denke. Ich bin mit dieser Gesellschaft nicht einverstanden, aber ich will keinen Umsturz, ganz im Gegenteil, ich bin Patriot.
LIAO YIWU:
Es gibt Leute, die sagen, Beijing lieben heißt China lieben. Zum Beispiel ist es bei allen Moderatoren des Zentralfernsehens Mode, von »unserem Land« zu sprechen, also sagen alle entsprechend »unser Land«.
LIU YI:
Ich bin nicht dieser Ansicht. Trotzdem, unsere Familie ist wirklich seit Generationen in Beijing, Vater ist ein alter Kommunist im Eisenbahnministerium, er hat sämtliche politischen Kampagnen mitgemacht. Wir waren sechs Kinder zu Hause, ich war der Zweitjüngste, außer meiner kleinen Schwester haben es alle sehr schlecht getroffen. Mein ältester Bruder im Handelsministerium ist nach Yanqing versetzt worden; meinen zweitältesten Bruder im Raumfahrtministerium haben sie nach Baoji versetzt, und meine dritt- und viertälteste Schwester sind als »gebildete Jugendliche« [16] aufs Land gekommen, nach Dongbei in den Nordosten und nach Henan. Ich war ebenfalls anderthalb Jahre in einer ländlichen Produktionsgesellschaft, in Daxing, einem Vorort von Beijing. Heute ist das ein Gewerbegebiet.
LIAO YIWU:
Wie die von Beijing-Stadt Ausgesiedelten.
LIU YI:
Der alte Mao, diese eine Figur, hat über das Leben von Hunderten von Millionen bestimmt.
LIAO YIWU:
Und später?
LIU YI:
1976 ist Mao gestorben, und meine Zeit als gebildeter Jugendlicher war auch
Weitere Kostenlose Bücher