Die Kugel und das Opium
gewesen sein, da habe ich von der »Reise in den Süden« des alten Deng gelesen, ich habe das sorgfältig analysiert und hatte den Eindruck, dass China nun in etwa in eine ebenso düstere und träge Phase eintritt wie die frühere Sowjetunion zur Zeit der Breschnew-Ära. Entsprechend war auch meine Stimmung.
Da es aber nun einmal war, wie es war, musste ich zunächst einmal sehen, dass ich überlebte. Also habe ich die Gefängnisleitung darauf hingewiesen, dass meine besonderen Stärken in der Lehre liegen. Ein Glück, denn sie haben mich von der Metallschneidereiwerkstatt in die Unterrichtsabteilung verlegt, wo ich zu festgesetzten Zeiten die anderen Gefangenen unterrichtete und am Ende sogar einen Teil meiner Strafe erlassen bekam.
LIAO YIWU:
Glück im Unglück.
YU ZHIJIAN:
Von uns dreien hat Lu Decheng am meisten Glück gehabt, er ist von Yunnan aus über die Grenze nach Thailand gelangt – auch wenn sie ihn beinahe wieder zurückgeschickt hätten. Und Yu Dongyue hat es am schlimmsten getroffen, als er rauskam, habe ich ein paar gute Freunde von der Demokratiebewegung zusammengetrommelt, um ihn abzuholen, aber er war wie ein morsches Stück Holz: damit hatte ich nicht gerechnet, das war nicht mehr der Yu Dongyue mit dem Heiligenschein, den ich so gut kannte, das war ein ganz anderer Mensch. Ich habe ihn immer wieder angesprochen: »Dongzi, Junge, was machst du denn, kennst du mich nicht mehr?«, aber er hat keine Reaktion gezeigt. Anstatt einer Reaktion krachte er auf die Knie, klammerte sich an meine Beine und schrie: »Erbarmen! Erbarmen!« Mir hat es schier das Herz zerrissen. Der 4 . Juni war ein sehr wichtiges Ereignis, und es ist Aufgabe der Historiker und Politiker, es umfassend zu würdigen, aber das Einzige, was ich nicht mehr loswerde, was mir das Herz abdrückt wie ein Geschwür, das ist Yu Dongyue: ich denke immer, dass ich ihn ruiniert habe. Ach.
LIAO YIWU:
Ich habe im Internet ein paar Berichte gelesen, dass sie im In- und Ausland Geld gesammelt haben, damit er sich behandeln lassen kann. Wie geht es ihm denn heute? Dass er nicht einmal mehr Sie erkennt! Das kann ich mir gar nicht vorstellen!
YU ZHIJIAN:
Er weiß nicht einmal, wer er selber ist. Wenn man ihn fragt: »Wer ist Yu Dongyue?«, dann macht er große Augen und es fällt ihm nicht ein.
LIAO YIWU:
Amnesie?
YU ZHIJIAN:
Keine Ahnung, wie schlimm sie ihn im Gefängnis gequält haben, wie sehr es ihn erschüttert hat! Kann sein, sie haben ihn unter Drogen gesetzt. Heute wird der alte Mao noch von vielen Menschen in China verehrt, in nicht wenigen Taxis baumelt er am Rückspiegel als so eine Art Schutzgott.
LIAO YIWU:
Dann wird es für immer ein Rätsel bleiben, was Yu Dongyue in den Wahnsinn getrieben hat?
YU ZHIJIAN:
Schwer zu sagen. Aber im Gefängnis von Yongzhou sind so viele Kriminelle eingesperrt, da sollte es nicht schwer sein, einen Gewalttäter zu finden. Vor einiger Zeit habe ich im Internet ein Dutzend reaktionärer Artikel veröffentlicht, und die örtliche Nationale Sicherheit hat mich wegen Aufwiegelung zum Umsturz für zweiunddreißig Tage festgesetzt. Als ich rauskam, habe ich mich zwei, drei Tage ausgeruht und sortiert und bin dann mit dem Auto die gut siebzig Kilometer in den Kreis Liuyang gefahren, um zu Hause nach Yu Dongyue zu sehen. Ach, er ist jetzt schon so lange wieder draußen, und seine Stimmungen haben sich ein bisschen stabilisiert. Er fällt nicht mehr vor jedem auf die Knie, doch sein Blick ist noch immer ganz abwesend, man darf kein lautes Wort sagen, sonst fängt er am ganzen Körper an zu zittern und fällt wieder auf die Knie. Seine Familie hilft ihm permanent, sein Gedächtnis wiederzuerlangen, mit diesem und jenem von früher, mit diesem und jenem Nachbarn auf der einen oder anderen Seite. Und in manchen jähen Augenblicken scheint er sich zu besinnen, dass er Yu Dongyue ist, aber im Nu ist das wieder weg. Wie bei Marquez in »Hundert Jahre Einsamkeit«, da gibt es Leute, die leben in einem fiktionalen Raum. Yu Dongyue hat diesen Roman einmal sehr geschätzt, und jetzt ist ausgerechnet er auch in einen solchen Raum hineingegangen.
Manchmal nehme ich ihn sogar zu Treffen der Demokratiebewegung mit. Schauen Sie, lieber Herr Liao, das Foto hier, der in der Mitte, das ist er. Selbst als das Bild aufgenommen wurde, hat er vor sich hin gebrummelt, doch vor ihm war nur Leere, in seinen Augen ist niemand.
LIAO YIWU:
Das ist ein sehr feierliches Foto. Was sind das für Leute?
YU ZHIJIAN:
Das
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