Die Kugel und das Opium
war auf meiner Hochzeit, viele Leute von der Demokratiebewegung waren da, um zu gratulieren.
LIAO YIWU:
Ich gratuliere auch! Und nach der Hochzeit, wovon werdet ihr jetzt leben?
YU ZHIJIAN:
Keine Ahnung. Alles in allem haben wir nicht die Wohnung, die wir brauchen, so etwas wie eine Rentenversicherung schon gar nicht. Wir verlassen uns auf unser Glück. Im Augenblick ist unsere Haupteinnahmequelle Nachhilfeunterricht. Mal haben wir viele, mal wenige Schüler, das ist alles sehr unsicher. Unser durchschnittliches Monatseinkommen liegt unter tausend Yuan.
LIAO YIWU:
Haben Sie daran gedacht, das Land zu verlassen?
YU ZHIJIAN:
Und dann?
LIAO YIWU:
Freiheit. Statt so einem Banditenstaat.
YU ZHIJIAN:
Aber es ist am Ende doch der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin, wenn man wirklich wegmuss, da tut man sich schwer.
LIAO YIWU:
Sie haben sich Ihre Haltung bewahrt, alle Achtung.
YU ZHIJIAN:
Wer sollte mir meine innere Freiheit nehmen? Selbst zu Hause sind kleine Reibereien unvermeidlich. Aber Liebe, Zuneigung, Freundschaft sind zeitlose Themen. Und ich lerne auch langsam, mich an die Gesellschaft anzupassen. Wir sind doch alles kleine Leute, die gute Miene zum bösen Spiel machen. Aber im Gegensatz zu den normalen kleinen Leuten haben wir diesen unauslöschlichen 4 . Juni-Komplex, wir schauen dem politischen Terror ins Gesicht, und da ist noch immer der Impuls, ihn herauszufordern.
LIAO YIWU:
Was ist für Sie der größte Horror?
YU ZHIJIAN:
Die Zukunft. Ich sehe nicht, dass dieses Volk, diese Gesellschaft noch eine Zukunft hat. Ob der Preis, den wir gezahlt haben, unser heißes Blut, sehr verachtet und lächerlich werden wird? Wir bemühen uns, dass unsere Nachkommen sich erinnern – ob sie das auch wollen? Und ob am Ende unsere Existenz dazu beiträgt, dass die Angesehenen, Erfolgreichen, die, die sich immer und überall alles nehmen, ein wenig unwohl fühlen. Ach, vergessen Sie es, erst mal weitersehen. Wenn man zu viel nachdenkt, bekommt man Kopfschmerzen.
LIAO YIWU:
Wollen Sie beide Kinder haben?
YU ZHIJIAN:
Schwer großzubekommen. Erst mal nicht.
Nachtrag
Um die Mittagszeit ist das Interview beendet, wir sind schweißgebadet. Changsha macht seinem Namen als »Backofen« alle Ehre, ich seufze, öffne die Tür und lüfte. Ich lade Yu Zhijian in der Nähe zu einem Schnellimbiss an der Straße ein, anschließend umarmen wir uns, und ich schaue ihm nach, wie er in die sengende Sonne eintaucht und sich in dem unaufhörlichen Hin und Her von Autos und Menschen verliert.
Ich komme an eine Telefonzelle, wähle die alte Nummer meines guten Ban und komme sogar durch! Der gute Ban am anderen Ende der Leitung ist ganz außer Atem, schimpft wie ein Rohrspatz und ruft immer wieder: »Ich kündige dir die Freundschaft!« Mir verschlägt es die Sprache. Ein Glück, dass er nicht gleich auflegt. Wie sich herausstellt, haben sie ihn betrogen, die sogenannte neue Telefonkarte hatte keinerlei Signal mehr, sobald er aus Yunnan heraus war, und zeigte auch keine Nummer mehr an.
Ich entschuldige mich tausendmal und verlange mit Nachdruck, dass wir uns auf der Stelle sehen. Aber der gute Ban, der sture Esel, der über zwanzig Jahre in Japan ausgebildet worden ist, lehnt das in scharfem Ton ab. Meine unverzeihlichen Vergehen sind derer zwei: Ich war nicht wie verabredet im Hotel Galaxie, und ich habe, als das neue Telefon nicht funktionierte, nicht versucht, ihn über das alte zu erreichen.
Ich bekenne mich schuldig. Ich geißele mich als feige und schreckhaft, ich tauge nicht für die Demokratiebewegung; außerdem bin ich komplett unflexibel. Nach meiner Rückkehr nach Lijiang versichere ich dem guten Ban noch mehrfach meine Liebe, und am Ende gewährt mir der alte Hundeknochen, der kein Jahr älter ist als ich, eine Audienz. Um seinen Verlust wettzumachen, habe ich ihm die Videoaufzeichnung des Interviews überreicht. Er hat die Nase gerümpft. Später hat sich dann bestätigt, dass die Qualität meines Geschenks minderwertig und es im Grunde nicht zu gebrauchen war.
Der gute Ban verkündet, um die frühere eiserne Brüderschaft wiederherzustellen, brauche es mindestens ein Jahr. Das ist jetzt schon drei Jahre her, er ist weit weg, in Japan, und ich mache mir Sorgen um ihn, wie um einen Verwandten.
Genauso wie ich mir Sorgen mache um Yu Zhijian, der unsere Beziehung zerstört hat.
Liu Yi,
Streikpostenleiter der Stadtbevölkerung
Dieses Interview hat über zwei Jahre in der Schublade gelegen, und erst
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