Die Kugel und das Opium
sagte, er wolle zu den Truppen und mit ihnen verhandeln, ich sagte, das sei zwecklos. Die Salven, die sie abschossen, waren dichter als die Löcher in einem Sieb, man warf sich auf den Bauch und konnte den Kopf nicht mehr heben. Verdammt, die Truppen der vereinigten acht Staaten während des Boxeraufstands, die japanischen Teufel und wer weiß, was noch alles in Beijing einmarschiert ist, aber keiner hat wahllos das Feuer auf die Zivilbevölkerung eröffnet. Aber die Befreiungsarmee, die nach eigenen Worten im Dienst des Volkes steht, die haben ohne die geringsten Skrupel dieses Gemetzel angerichtet!
Unklar, wie viele entkommen sind, wie viele in dem Kugelhagel die Verwundeten herausgeschleppt haben. Es war völlig in Ordnung, dass sie sich in Sicherheit gebracht haben, war es ein Fehler, sein Leben aufs Spiel zu setzen? Nachher ist neben dem Kulturpalast der erste Panzer in Flammen aufgegangen, in dem Panzer hat ein Divisionskommandeur gesessen. Pünktlich um 4 Uhr 45 in der Früh sind die Lampen auf dem Platz ausgegangen, und bevor es hell wurde, sind die Truppen in ihren Tarnanzügen auf den Platz vorgedrungen. Ich habe auf den ersten Blick gesehen, dass es völlig aussichtslos war, sich ihnen in den Weg zu stellen, also habe ich auf der Stelle sämtliche Namenslisten, einschließlich der Versammlungsprotokolle der Streikposten und des Unabhängigen Zusammenschlusses der Hochschulen, mit Benzin übergossen und angezündet. Möglich, dass das in dieser Nacht das erste Feuer auf dem Tiananmen war.
LIAO YIWU:
Sehr interessant, was Sie da erzählen.
LIU YI:
Eine ganze Reihe von Leuten hat an der Ostseite der Heldengedenksäule Hand in Hand die Internationale gesungen. Die Lautsprecher schrien: Kommilitonen, nicht weglaufen! Wir sind im Recht! Lang leben die Studenten! Lang leben die Bürger! Nieder mit Bürokratie und Korruption! Nachher sind die Lautsprecher dann verstummt. Irgendwer wurde darin verwickelt, den haben sie am Fuß der Säule niedergeschossen, es floss viel Blut! Eine schwarze Masse von Truppen begann die Zelte zu zerstören und hat uns an einer Stelle eingekreist, als würden sie Gefangene machen. Um die Gedenksäule herum herrschte Chaos, unsere Brüder von den Streikposten haben schließlich, zwei Reihen von Gewehren auf sie gerichtet, weinend den Platz verlassen. Als ich das Osttor der Großen Halle des Volkes erreichte, kamen auf einmal ein paar Studenten von der Seite gerannt, die Soldaten, die sie verfolgten, schrien: Halt! Stehen bleiben! Sie hatten es kaum gesagt, als ein Kugelhagel über den Boden schrabbte. Ich bin so erschrocken, dass ich einen zwei Ellen weiten Satz gemacht habe. Waren die von allen guten Geistern verlassen? So ging die Volksarmee mit der unbewaffneten Bevölkerung um, verdammt … Saubande! …
LIAO YIWU:
Wie viele haben Sie fallen sehen?
LIU YI:
Fünf. Eine Studentin war dabei, die hielt sich den Bauch, der kamen die Gedärme raus. All das Blut, das Stöhnen, das Schreien. Damit konnte doch keiner rechnen, dass die Liebe zum Land zu so etwas führen würde!
LIAO YIWU:
Und Ihre Gruppe hat sich dann sofort aufgelöst?
LIU YI:
Wir sind auseinander, haben uns aber nicht aufgelöst.
LIAO YIWU:
Wie viele sind übrig geblieben?
LIU YI:
Gut zehn.
LIAO YIWU:
Wo haben Sie sich versteckt?
LIU YI:
Zuerst bei einem Freund zu Hause, keiner hat sich getraut, vor die Tür zu gehen oder zu telefonieren. Der Freund war ein sehr loyaler Mensch. Da haben sich über zehn Leute bei ihm zu Hause zusammengedrängt, gemeinsam gegessen, geschlafen, aber es gab kein einziges böses Wort. Um den 7 . Juni herum habe ich ein paar verdächtige Gestalten draußen herumschleichen sehen. Sofort haben wir den Ort gewechselt und fast vierzehn Tage in dem großen Innenhof eines Bauern im Bezirk Fengtai ausgeharrt. Ohne Geld konnten wir als Gruppe nicht weiter weg, also mussten wir auf Umwegen zurück. Resultat: Wir sind entdeckt worden.
Man kann nichts sagen, das Haus unseres Freundes war von einem Augenblick auf den anderen hermetisch abgeriegelt, dicht wie ein Fass. Die Polizei klopfte, kam herein, schrie herum, rief uns beim Namen, und jedem Genannten wurden Handschellen angelegt. Als die Reihe an mir war, haben sie dreimal gerufen, ich habe keine Antwort gegeben. Da ist einer von den Revierpolizisten auf mich zugestürzt und hat mir eine runtergehauen: Da sitzt er und gibt keinen Piep von sich, wir meinen dich!
Anschließend bin ich ins Untersuchungsgefängnis Nr. 7 geschafft
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