Die Kugel und das Opium
vorbei. Ich bin zurück in die Stadt und habe beim Raumfahrtministerium angefangen. Nach vier Jahren hat es mir gereicht, ich wollte nicht mehr als Schlachtvieh im staatlichen System verheizt werden und habe mich selbständig gemacht. Zuerst habe ich Kaugummis verkauft und von früh bis spät geackert, bin mit einem Schulranzen auf dem Buckel die Wangfujing und den Xidan rauf und runter. Damals waren Kaugummis gerade schwer in Mode und gingen weg wie warme Mantous. Hehe.
LIAO YIWU:
So als Vorläufer der Reform- und Öffnungspolitik?
LIU YI:
Das war noch lange, lange hin. Die Selbständigen damals galten in den Augen der Massen noch als Rumtreiber und Gauner oder als Sprösslinge der Ausbeuterklasse. Später ist die Gesellschaft dann etwas offener geworden, und erst da konnte ich umstellen von fliegender Kaugummihändler auf einen festen Obststand. Das gab Geld, ich wurde zu einem Zehntausend-Yuan-Haushalt [17] und habe lange Zeit meine Geschwister unterstützt.
LIAO YIWU:
Sie haben die Courage und die Klugheit, die man als Geschäftsmann braucht. Wie kam es, dass Sie sich für Politik interessierten?
LIU YI:
Da war nichts zu machen, dem kann man als Chinese in »guten Zeiten« nicht entgehen.
LIAO YIWU:
Wu Wenjian sagt, Sie seien mit sechsunddreißig in den 4 . Juni verwickelt worden.
LIU YI:
Ich hatte ganz einfache Vorstellungen im Kopf. Ich habe auch an der Demonstration der Moslems im April ’ 89 teilgenommen.
LIAO YIWU:
Aus welchem Grund?
LIU YI:
Wegen der Rassendiskriminierung durch die Politik.
LIAO YIWU:
Und die Studentenbewegung?
LIU YI:
Purer Zufall. Hu Yaobang war noch nicht lange tot, und ich bin oft am großen Tor vom Tiananmen vorbeigekommen, damals hatten die großen Demonstrationen noch nicht angefangen, eine ganze Reihe von nicht ausgelastetem Personal nutzte die Gunst der Stunde und trieb irgendwelchen Unfug. Dass Studenten demonstrierten, auf die Knie fielen, irgendwelche Petitionen überreichten, die Intellektuellen sie unterstützten und die zuständigen Behörden keine Antwort gaben, das war später. Wir normalen Bürger sind von den Bücherleuten bewegt worden, die waren für das Land, für das Volk, gegen Korruption und Bürokratie, sie hatten nichts davon, sogar die kleinen Diebe der Stadt legten einen dreitägigen Streik ein. Da ist mir das heiße Blut in den Kopf gestiegen, einander völlig unbekannte Menschen haben Gruppen gebildet, Vertreter gewählt, um auf dem Tiananmen die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ganz am Anfang waren wir dreißig, fünfzig Leute, nachher dann über zweihundert.
LIAO YIWU:
Waren das die sogenannten Streikposten auf dem Platz? Ich habe gehört, Sie waren der Leiter dieser Streikposten.
LIU YI:
Ich habe gut zweitausend Kuai, die ich durch den Obstverkauf angespart hatte, gespendet, deshalb haben sie mich zum Verantwortlichen gewählt.
LIAO YIWU:
Wer viel gespendet hat, konnte Leiter werden? Ende der achtziger Jahre waren zweitausend Kuai so viel wie heute mehrere zehntausend.
LIU YI:
Man brauchte auch noch die entsprechende Leidenschaft und das entsprechende Köpfchen. Wir Streikposten haben uns früher zusammengetan als der Unabhängige Zusammenschluss der Beijinger Hochschulen und der Arbeiter, und wir haben als Erste unsere Zelte auf dem Tiananmen aufgeschlagen.
LIAO YIWU:
Wenn es um das Wohl und Wehe des Staates geht, muss jeder seine Pflicht tun. Ich habe mir sagen lassen, dass Hou Dejian am Vorabend des 4 . Juni sogar gesungen hat: Der hässliche Chinese war nie so schön wie heute.
LIU YI:
Am vierten, dritten, zweiten, ersten Juni, die Erinnerungen … ich rauche erst eine Zigarette, das wühlt mich zu sehr auf … Herr Liao, kann ich ein paar Fragen stellen?
LIAO YIWU:
Natürlich.
LIU YI:
Wer hat als Erster den Befehl gegeben? Wer hat als Erster geschossen? Wer hat den ersten Militärwagen angezündet? Waren die Gewehre, die die Massen zerstört haben, wirklich von der Regierung bewusst an den Tiananmen geschickter ausgedienter Schrott?
LIAO YIWU:
Keine Ahnung.
LIU YI:
Doch! Sie waren nicht auf dem Platz, Sie haben das nicht am eigenen Leib erfahren. Am Abend des 4 . Juni schossen zwei Panzerkolonnen der Ausnahmetruppen von zwei Seiten auf den Platz, sie hatten mehr als sechzig Sachen drauf, ein Wahnsinn, ein Wahnsinn! Zu dem Zeitpunkt waren immer noch gut ein paar zehntausend Leute auf dem Platz. Ich gehörte zu den Letzten, die den Tiananmen verlassen haben, vorher bin ich noch Hou Dejian in die Arme gelaufen. Er
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