Die Kunst, anders zu leben
nächsten zehn Tage lieferten wir Ersatzartikel im Wert von 20 000 Euro aus und fanden auch einen neuen Lieferanten, der bereit war, einige der »gestrandeten« Kunden des alten Fulfillment Centers zu übernehmen.
Anfangs war es ein ungeheurer Stress, wieder Ordnung in dieses Chaos zu bringen. In den ersten Stunden hatte ich keine Ahnung, ob mein Unternehmen dieses unerwartete Problem überhaupt überleben würde. Doch als ich nach meinem letzten Telefongespräch um Mitternacht in meinem kleinen Büro saß, überkam mich eine tiefe innere Ruhe. So seltsam es auch klingen mag – irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese Krise sogar gut für mich gewesen war. Sie zwang mich, das, was ich zurzeit tat, genau zu überdenken und eine kreative Lösung für mein Problem zu finden, damit trotz dieses Ausfalls alles so reibungslos wie möglich weiterlief.
»Es wird alles gut gehen«, schrieb ich in mein Tagebuch, während ich bei einem potenziellen Lieferanten in der Telefonwarteschleife hing. »Ich werde einen Weg finden, diese Krise zu überwinden, und danach wird es mir sogar noch besser gehen als vorher.«
Und es ging auch tatsächlich alles gut. Mein Bruder war mir drei Wochen lang eine großartige Hilfe als Ein-Mann-Versandagentur, und danach übernahm das neue Fulfillment Center die Abwicklung meiner Bestellungen (und erledigte seine Aufgabe viel besser als der vorherige Lieferant). Ich entwickelte ein ganz neues Selbstvertrauen; irgendwie hatte ich jetzt das Gefühl, alle Probleme lösen zu können, mit denen ich konfrontiert wurde.
Ich habe aus dieser Erfahrung gelernt, dass man jede Krise überwinden kann. Selbst wenn ein wichtiger Lieferant über Nacht von der Bildfläche verschwindet und man fast 8000 Kilometer vom Geschehen entfernt ist – als kreativer Unternehmer muss man auch in so einer Situation irgendeine Lösung finden. Niemand anders ist schuld an unseren Problemen, und es liegt in unserer Verantwortung, schwierige Situationen zu überstehen und uns wieder aufzurappeln.
Paradoxerweise ist man nach der Überwindung einer existenziell bedrohlichen Situation oft stärker, als man es vor der Krise war. Bei mir war damals das Beste von allem, dass die meisten Leute in meiner Umgebung gar nicht mitbekommen hatten, was los war. Meine in anderen Ländern wohnenden Kunden waren zufrieden, und meine Kollegen bei der Hilfsorganisation in Afrika hatten keine Ahnung, mit welchem Problem ich mich Abend für Abend herumschlug. Ich setzte meine ehrenamtliche Tätigkeit noch ein Jahr lang fort, dann kehrte ich wieder in die USA zurück, um mich an der Universität einzuschreiben. Mein Online-Unternehmen expandierte unterdessen immer weiter; trotzdem musste ich jetzt immer weniger Zeit dafür investieren.
Kleiner Warnhinweis: Was Sie bei Ihrem Fluchtplan beherzigen sollten
Natürlich hätte die Geschichte, die ich Ihnen gerade erzählt habe, auch ganz anders ausgehen können – mein Versuch, ein Geschäft wiederzubeleben, das sich am Rande eines Herzstillstands befand, hätte auch total schiefgehen können. Doch selbst wenn das passiert wäre, wäre ich immer noch besser dran gewesen als irgendein Bankangestellter, der in seiner Freizeit verzweifelte Fluchtpläne schmiedet. Weil wir gerade bei diesem Thema sind: »Flucht« ist ein häufiges Thema in Büchern und Infobroschüren zum Thema berufliche Selbstständigkeit, und ich kann auch gut verstehen, warum. Wenn man bei einer Bank arbeitet und selbst in Zeiten, in denen in der Filiale absolut nichts los ist, nicht im Internet surfen darf, ist der Gedanke an Flucht wahrscheinlich sehr naheliegend.
Aber seien Sie vorsichtig! Wenn Ihre Gedanken immer häufiger um die Frage kreisen, wie Sie Ihrer stumpfsinnigen Tätigkeit im Großraumbüro (oder an irgendeinem anderen Arbeitsplatz) entrinnen können, denken Sie daran, dass Sie auch ein Ziel für Ihre Flucht brauchen. Sonst sind Sie hinterher vielleicht kein bisschen glücklicher als vor dem Ausbruch aus Ihrem »Arbeitsgefängnis«. Vielleicht geht es Ihnen dann wie dem verliebten Paar, das unzählige Stunden damit verbringt, seine Hochzeit zu planen, sich aber nicht viele Gedanken über sein gemeinsames Leben nach diesem großen Tag macht: Dann empfinden Sie Ihre neu gewonnene Freiheit womöglich nicht als das faszinierende Abenteuer, das sie eigentlich sein sollte, sondern eher als einen Sprung ins kalte Wasser, der Ihnen nicht die erhoffte Erfüllung gebracht hat.
Auch der Idee, gar nicht zu arbeiten oder
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