Die Kunst, anders zu leben
Bombe, während sich gleichzeitig meine ehrenamtlichen Verpflichtungen in Afrika immer mehr ausweiteten. Meine Kollegen und Kunden in diesem Unternehmen, das seinen Sitz in den USA hatte, wussten gar nicht, dass ich in Afrika lebte; und meine ehrenamtlichen Kollegen in Afrika wiederum hatten keine Ahnung von meiner zweiten Identität im Internet. Ein paar Mal im Monat stellte ich meinen Wecker auf drei Uhr morgens, um an Telefonkonferenzen über Satellitentelefon teilnehmen zu können, bei denen die anderen Teilnehmer darüber staunten, dass ich offenbar abwechselnd von Los Angeles und London aus arbeitete. Natürlich verlor ich kein Sterbenswort darüber, dass ich in Wirklichkeit noch viel weiter weg war, nämlich in Ländern wie Sierra Leone und Liberia.
Ich arbeitete 45 Stunden pro Woche an verschiedenen ehrenamtlichen Projekten und investierte zusätzlich noch 20 Wochenstunden in mein Online-Geschäft. Und es funktionierte auch alles wunderbar – oder zumindest so gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten konnte. Doch eines Abends fiel meine provisorische Konstruktion in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ich war gerade von einem langen Arbeitstag zurückgekehrt, an dem ich Medikamente in ein Dorf liefern musste, zwei Stunden von der Hauptstadt entfernt, in der unsere Hilfsorganisation ihren Sitz hatte. Dann setzte ich mich an meinen Computer, ging ins Internet, so gut das mit meiner störanfälligen Satellitenverbindung überhaupt möglich war, und begann meine E-Mails abzurufen. Ich rechnete damit, 20 bis 30 Minuten lang E-Mails bearbeiten und Neubestellungen hochladen zu müssen und anschließend schlafen gehen zu können.
Doch dann sah ich die E-Mail mit der Betreffzeile »Dringende Information«. Sie stammte von meinem neuen Fulfillment Center. In der E-Mail stand, dass das Center ab sofort geschlossen war. »Es werden keine weiteren Produkte mehr ausgeliefert«, hieß es in der Mail, und tatsächlich waren auch in den letzten drei Wochen keine Produkte ausgeliefert worden. Als ich verzweifelt dort anzurufen versuchte, hörte ich nur die Durchsage »Kein Anschluss unter dieser Nummer«.
Im Nachhinein weiß ich, dass ich die Warnsignale eigentlich schon vorher hätte erkennen müssen: Die Inventar-Datensätze waren nicht mehr richtig geführt, Anfragen nur noch desinteressiert und lückenhaft beantwortet worden. Doch ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, Wagenladungen mit Hilfslieferungen in verschiedene afrikanische Dörfer zu fahren sowie Patienten aus dem Umland einzusammeln und in die Klinik zu transportieren, dass ich diese Warnsignale einfach übersehen hatte. Nun, da ich spätabends in meinem kleinen Büro diese E-Mail las, wobei die Internetverbindung immer wieder unterbrochen wurde, saß ich einfach nur da und war ratlos. Mein Unternehmen steckte in einer großen Krise, und ich hatte nicht viel Zeit, mich darum zu kümmern. Schließlich gab es für mich wichtige Arbeit in Sierra Leone zu erledigen; ich konnte hier nicht einfach alles stehen und liegen lassen, um in die USA zurückzufliegen.
In den nächsten Stunden meldeten sich in verschiedenen Internetforen andere Geschäftsinhaber, die von demselben Fulfillment Center im Stich gelassen worden waren, und schimpften auf dieses Unternehmen, durch das uns jetzt allen ein wichtiges Glied in unserer Vertriebskette fehlte. Auch ich war wütend, wusste aber, dass es mich nicht weiterbringen würde, wenn ich mich auf meine Empörung konzentrierte. Das Fulfillment Center würde seine Arbeit deshalb trotzdem nicht wieder aufnehmen, und meine Schimpferei würde mir auch keinen Ausweg aus der Krise weisen. Ich wusste, dass es besser war, über eine Lösung meines Problems nachzudenken. Um meine negativen Emotionen konnte ich mich später kümmern.
Ich rief meinen Bruder an. Er hatte mir vor über fünf Jahren beim Aufbau meines Unternehmens geholfen, ging inzwischen aber einer eigenen beruflichen Karriere nach. »Ich brauche deine Hilfe, Ken«, sagte ich. Meine Idee war, meinen Bruder so lange als mein vorübergehendes Ein-Mann-Fulfillment-Center einzuspannen, bis ich eine langfristige Lösung gefunden hatte. Zum Glück war er einverstanden. Als Nächstes rief ich meine Druckerei an, um Bücher-Nachschub zu bestellen, fragte bei drei neuen Fulfillment Centern nach, ob sie mir aushelfen könnten, und telefonierte auch mit mehreren anderen Kunden des pleitegegangenen Lieferanten, um zu hören, wie sie das Problem gelöst hatten. Im Lauf der
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