Die Kunst des guten Beendens
und Selbstverachtung die Krücken einer defizitären Identität. Scham macht einsam, Selbstverachtung aggressiv – gegenüber anderen und gegen andere und gegen sich selbst. So sind Selbstverstümmelungen junger Menschen in elenden Verhältnissen ebenso gang und gäbe wie sogenannte »sinnlose Morde« an anderen. Sogenannte »Versager« bringen andere und schließlich sich selbst um.
Das Schuldgefühl hilft aber auch, die Illusion der eigenen Wichtigkeit aufrechtzuerhalten. Und der Wunsch, sich ohne Scham zeigen zu können, sucht sich die bizarrsten und lebensgefährlichsten Möglichkeiten. Davon künden die niemals erstellten Statistiken von Arbeitsunfällen, von Verkehrsunfällen, von Gewalt in der Familie.
Auf Gedeih und Verderb einem Mann bzw. seiner Familie ausgeliefert zu sein und Ungerechtigkeit um Ungerechtigkeit zu schlucken – das war und ist bis heute das Los vieler Bauers- und Arbeiterfrauen. Unter Bauern zeichnet sich eine neue Entwicklung ab. Bäuerinnen wagen zunehmend, den Hof, auf dem sie von Mann und Schwiegereltern tyrannisiert werden, zu verlassen. Die Ungerechtigkeit ist damit nicht mehr undurchschaubar, sondern sie kann zunehmend benannt werden. Mit dem Benennen wird sie kritisier- und änderbar. Es wird ein Beenden möglich. 50
Eine über achtzigjährige ehemalige Hebamme berichtet darüber, wie wenig Ansehen ihr Beruf hatte. Und wie sie ein Leben lang schuftete, Wasser schleppte, Tag und Nacht unterwegs war und viel Kampf und Leid erlebte. Hausgeburten waren früher sehr anstrengend. Durch die Überanstrengung, Nachtarbeit und Kälte entstandene Berufskrankheiten, »Hebammengsüch«, erforderten bei ihr einige schwere Operationen. Im Alter erzählt diese Frau von ihren leisen Lebensweisheiten, von den persönlichen Abrechnungen und auch von Zufriedenheit und Einverständnis ins Leben. »Vielleicht ist der Tod eine umgekehrte Geburt. Gar am Ende steht da eine gute Hebamme und hilft einem hinaus.« 51
Ungerechtigkeiten und benachteiligende Traditionen, die nicht zu durchschauen sind, verhindern ein Beenden der unhaltbaren Zustände. Erst wenn sie erkannt und benannt werden, kann an ein bewusstes Beenden gedacht werden.
Beenden im professionellen Handeln
Beenden-Können steht nicht nur in schicksalhaften Momenten an. Beenden-Können meint auch eine Lebenskompetenz. In vielen Berufen gehört das Beenden-Können zu einer professionellen Haltung. Hier stellt sich die Frage, wie eine Arbeitssequenz, eine Sitzung beendet wird, ein Vortrag, ein Seminar, eine Therapie, eine Veranstaltung, ein Text, ein Interview, ein Film, ein Buch, eine künstlerische Produktion. Ausgewählte Beispiele sollen im Folgenden zeigen, welche Formen des Beendens es im beruflichen Handeln geben kann – oder auch nicht geben kann. Bewusstes Beenden ist keine Selbstverständlichkeit.
Patienten brechen eine Therapie ab. Sie sprechen auf den Telefonbeantworter der Praxis und melden sich für die nächste Sitzung ab und erklären, dass sie sich wieder melden. Wenn sie sich einige Wochen nicht gemeldet haben, frage ich schriftlich an, ob sie die Therapie weiterführen oder abbrechen möchten. Wenn dann kein Bescheid kommt, Funkstille herrscht, dann sehe ich jeweils nochmals meine Notizen durch und überlege mir, was zum Abbruch geführt haben könnte. Schuldgefühle? Scham? Gleichgültigkeit? Manchmal kann ich nur meine Phantasie walten lassen, weil ich solchen Menschen nach einer Einladung, die sie nicht beantworten, nicht mehr weiter nachforsche, sondern den Rückzug dieser Patienten akzeptiere. Ich gestehe ihnen den Abbruch der Therapie zu. Es ist allerdings ein unbefriedigender Zustand. Ein einseitiger Abbruch einer Beziehung ohne ein gemeinsames Beenden lässt immer viele Fragen offen.
Wenn so jemand später wiederkommt, ist es meist sehr schwierig, die Gründe des Abbruchs herauszufinden. Es war einfach stimmig so, heißt es lapidar, man hätte sich abmelden müssen? Es fehlt meistens die Einsicht, den Abbruch zu reflektieren, der sich daher wiederholen kann. Für die Therapeutin gilt, dass sie mit diesen offengebliebenen Fragen und den entsprechenden Phantasien bewusst einenabschließenden Umgang suchen soll. Das kann durch das Verfassen eines abschließenden kleinen Textes zur Therapie und zum Abbruch geschehen, der dann im Dossier abgelegt wird.
Ein Beispiel: Es findet ein Wochenendseminar mit klarem Beginn und Abschluss statt. Doch zum festgelegten Zeitpunkt wollen die einen das Seminar vorzeitig verlassen, die
Weitere Kostenlose Bücher