Die Kunst des guten Beendens
nachzutragen, zu projizieren und Schuld zuzuschreiben, sondern die eigene Verantwortung zu übernehmen.
Kindliche Schuldgefühle bei Trennungen liegen meist auf einer tieferen Ebene, wo sich ein Kind wichtige Fragen stellt: An wen soll ich mich halten? Wo bin ich sicher? Wer hilft mir, wenn die Eltern schwach bzw. zerstritten sind? Aus dieser Unsicherheit und dem Konflikt zwischen Mitleid und allenfalls Hass (sie verlassen mich) entstehen beim Kind Schuldgefühle. Sie sind einfacher zu ertragen als der Hass auf die Eltern. Das bedeutet nicht, dass die Eltern noch mehr Schuldgefühle haben müssen, sondern dass sie ihren Teil bewusst wahrnehmen und dem Kind gegenüber übernehmen. Ein Beenden und ein Neubeginn müssen als seelische Möglichkeiten angelegt und die dazu notwendigen Ressourcen bei allen Beteiligten bewusst gestärkt werden. Die Erwachsenen als Akteure haben die Verantwortung zu übernehmen.
Wenn Krisen und Konflikte als gemeinsame Herausforderung angegangen werden können, stärken sie das familiäre Immunsystem. In einer getrennten Familie können Geschwister einander maßgeblich unterstützen, um nicht zum Spielball im Hin und Her zwischen den Eltern zu werden. Eine konfliktfähige Geschwistergruppe kann für die Eltern eine Ressource werden, um lebbare Lösungen für alle zu entwickeln. Weitere Ressourcen von leiblichen und sozialen Kindern, Jugendlichen und Eltern in getrennten und neuen Familien sind der konstruktive Umgang mit Gefühlen, eine gute Aushandlungskompetenz (von Besuchszeiten bis zu Geldfragen) und die Bereitschaft zur gegenseitigen Einfühlung und zu Großzügigkeit und Toleranz. Stolpersteine nach Trennungen und Übergängen liegen meistens in zu hohen Erwartungen, in Wunschbildern und Träumen davon, wie es sein sollte. Familien scheitern meistens nicht am Realen, sondern an Illusionen.
Ungerechtigkeit, die nicht zu durchschauen ist
Wer in einem armen Land oder in einem Armenviertel aufwächst, hat Pech gehabt. Damit nicht genug – diese Menschen müssen sich für ihre Herkunft auch noch schämen. Die Welt und ihre Schicksalhaftigkeit sind oft verunsichernd, verstörend und höchst fragwürdig. Unglück kann Unausweichlichkeit, Verlust, Resignation und Unterwerfung und Anpassung suggerieren, Armut und Unglück eine undurchschaubare Ungerechtigkeit schaffen. Das bedeutet, dass scheinbar niemand schuld bzw. verantwortlich und zuständig ist, weder die Regierung, die Industrie noch die Betroffenen. Wenn die Ungerechtigkeit nicht durchschaut werden kann, dann gibt es auch keine Lösung, die Ungerechtigkeit abzubauen. Den Betroffenen in ihrer entwürdigenden und schambesetzten Not kann nicht geholfen werden.
Ich arbeite in meiner Praxis häufig mit Migrantinnen, Asylbewerbern und Flüchtlingen. Es sind Frauen, Männerund Kinder, die aus einer existentiellen oder politischen Notlage heraus in die Schweiz gekommen sind. Sie passen sich hier unter unendlichen Schwierigkeiten langsam, aber sicher an, lernen die Sprache und die Sitten und schicken ihre Kinder zur Schule. Doch dann müssen sie auf staatliche Anordnung ausreisen bzw. werden zwangsweise in jenes Land ausgewiesen, das sie traumatisiert verlassen haben.
Oder ein anderes Beispiel: Ein Mensch kommt in einer armen und traumatisierten Familie zur Welt und erlebt keine Chance, zu wachsen und sich zu entwickeln. Der Wert solcher Menschen für die Gesellschaft wird geleugnet, deren Rechte werden massiv beschnitten und die psychische und physische Integrität verletzt. Wo bleibt die Gerechtigkeit als Möglichkeit, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern garantieren müsste, damit sie ein menschenwürdiges Leben führen können? Eine Mindestgarantie auf Menschenwürde?
Doch ausgerechnet die Opfer leiden unter massiven Schuldgefühlen, die in der Missachtung und Entwertung, die sie erfahren mussten, wurzeln. Sie führen zu einem abgrundtiefen Misstrauen gegenüber sich selbst, zu einer sich selbst schädigenden Selbstabwertung. Sie meinen, es nicht verdient zu haben, respektiert zu werden. Sie meinen, keinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben leisten zu können. Es ist eine zu große Kränkung, als dass sie unbeschadet überbestanden werden kann. Diese Menschen erkranken größtenteils ohne hinreichende Diagnose: sie haben Schmerzen am ganzen Körper. Als Therapeutin sehe ich, wie es ihnen jede Woche schlechter geht, und kann kaum etwas tun. Diesen Menschen wird eine positive Identitätsbildung schlicht verweigert. So bilden Scham
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