Die Kunst des guten Beendens
erklären, dass die während Jahrhunderten unterdrückte schwarze Kultur wieder erwachen konnte. Sie konnte an einen Reichtum anknüpfen, der zutiefst in der Kultur dieser Menschen angelegt ist.
Wenn die Toten zu den Lebenden gehören
Im September 2002 habe ich Nelson Mandela bei einem Auftritt erlebt: seine äußerliche Zerbrechlichkeit, sein junges lächelndes Gesicht, seine eindringliche Rede zu Korruption und Aids und dazu, wie »wir Südafrikaner« gegen beides hart kämpfen müssen. Und wie wir uns alle über hundertjährigen Südafrikaner, Frauen und Männer, lächelnd in ihrem ewigen Schlaf vorstellen dürfen, wie sie uns wohlwollend in unserem Kampf beobachten. Es ist eine uns fremde, aber schöne Vorstellung: Die Toten schlafen, und sie lächeln, wenn sie die Lebenden weiterkämpfen sehen.
Der Tod ist in Südafrika erschreckend alltäglich. Dochdieses alltägliche Sterben wird achtsam und würdevoll begleitet. Denn die Toten gehören zu den Lebenden. Wenn von Schwarzen Geld gespart wird, fließt es in einen Beerdigungsfonds. Jeder wünscht sich, würdevoll verabschiedet und begraben zu werden. Damit die Toten den Lebenden nicht schaden, wollen sie angemessen begraben werden. Die Toten gehören ins lebendige Leben. Wenn eine Versammlung eröffnet wird, wird zuerst gebetet und gesungen. Danach werden die Kanäle zu den Verstorbenen, den Ahnen, geöffnet, damit sie ihren Segen geben können. Nicht erst die Verstorbenen werden geehrt. Es gibt ein intuitives Verständnis für den Prozess des Lebens und Sterbens, das sich darin äußert, dass alte Menschen geachtet werden. Alten Menschen wird Weisheit und Würde zugeschrieben und sie werden entsprechend verehrt.
Mia Couto, ein weißer Mozambiquaner mit schwarzer Seele, hat in mehreren Büchern das Zueinandergehören von Lebenden und Toten beschrieben. 53 Seine Texte schweifen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umher. Sie sind durchdrungen von Realität und Traum, belebt von lebendigen und toten Menschen, die miteinander kommunizieren. Das Nebeneinander und Miteinander der Zeiten und Räume, des Lebens und des Todes entspricht dem seelischen Empfinden der Afrikaner. Es gibt keine Gegensätze, sondern nur Gemeinsamkeiten.
Wenn die Toten und Lebenden derart miteinander verbunden sind, erhalten Sterben und Tod eine besondere Bedeutung. Der Abschied vom Körper wird höchst würdevoll und respektvoll vollzogen. Wenn junge Menschen an Aids sterben oder ermordet werden, ist die Trauer enorm. Es sind sehr viele christliche und traditionell-afrikanische Rituale, vor allem auch Reinigungsriten nötig, um den bösen Geist des Verstorbenen bzw. den ihm auferlegten bösen Geist – den sie sich vorstellen – auszutreiben. Trauerarbeit ist vor allem dann heftig und notwendig, wenn ein Mensch in jungem Alter durch Krankheit und Gewalt ums Leben kommt. Dann stelltsich die Sinnfrage mit Wucht: Weshalb? Warum? Wozu? Und das gehört leider zum südafrikanischen Alltag.
Mit der »Memory Work«, der Abschieds- und Erinnerungsarbeit, die seit Ende der Apartheid in den Townships von Gemeinwesenarbeitern und Psychologen praktiziert wird, werden Sterbende darin unterstützt, ihren letzten Willen zu formulieren und ein Vermächtnis in Form von Zeichnungen, Schachteln mit Erinnerungsstücken zu schaffen. Es sind zumeist sehr wenige kleine Dinge, die in einer kleinen Memory-Box Platz finden: eine Foto, der Geburtsschein, ein Taschentuch, ein Kamm, eine Halskette, ein Gebet für die Kinder. Memory Boxes symbolisieren für Sterbende und Überlebende Wert, Würde und Erinnerung. Das auf einen Tod folgende innere Gespräch mit den Toten gehört zum Kulturgut. Wer noch stärker in der traditionellen Kultur verankert ist, hat es leichter, die Toten im Leben zu spüren.
Das Jetzt ist der Maßstab
In der afrikanischen Lebenswelt in Afrika ist immer wieder, selbst in den bedrückendsten Situationen, die Lebensfreude spürbar. Bei Streik-Kundgebungen, bei Beerdigungen, bei sonstigen Feiern wird gesungen und getanzt, gelacht und geweint, umarmt und losgelassen. Der Kampf um das Überleben findet täglich statt. Er ist spürbar und sichtbar. Offensichtlich ist das Auskosten des gegenwärtigen Augenblicks eine Möglichkeit, mit der belastenden Vergangenheit klarzukommen und die offene Zukunft noch ein Stück warten zu lassen. Der Mensch lebt im Jetzt. Es ist das Einzige, das er wirklich hat, und deshalb will es gefeiert werden. Eine Minute später kann schon alles ganz anders
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