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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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außerirdischen Schauplatz zurück, bis wir gründlich damit vertraut waren. Sooft wir konnten, übersprangen wir die Zeit des grellen Leuchtens, die Tageszeit, und reisten in der Nacht dorthin, gerade rechtzeitig, um über dem Horizont einen kolossalen Himmelskörper aufgehen zu sehen; manchmal war er so groß, daß er, wenn er über dem Horizont aufging, mindestens die Hälfte des 180-Grad Winkels vor uns einnahm. Der Himmelskörper war wunderschön, und sein Aufgehen über dem Horizont war so atemberaubend, daß ich eine Ewigkeit hätte bleiben wollen, nur um diesen Augenblick zu erleben.
    Wenn der Himmelskörper den Zenit erreichte, verdeckte er beinah das ganze Firmament.
    Jedesmal legten wir uns dann auf den Rücken und starrten hinauf. Er hatte regelmäßige Strukturen die zu unterscheiden Zuleica uns gelehrt hatte. Ich erkannte, daß es kein Stern war.
    Das Licht wurde reflektiert. Es war offenbar ein dunkler Himmelskörper, denn das Licht war im Verhältnis zu seiner Größe recht milde. Auf der safrangelben Oberfläche waren riesige, unveränderliche braune Flecke zu sehen.
    So nahm Zuleica uns systematisch auf ihre Reisen mit, die mit Worten nicht zu beschreiben sind. Wie la Gorda mir erzählte, nahm Zuleica Josefina noch weiter und tiefer in das Unbekannte mit, denn Josefina war, wie Zuleica selbst, ein bißchen verrückt; keine von beiden besaß jenen rationalen Kern, der einem Träumer Nüchternheit verleiht; daher kannten sie keine Grenzen und interessierten sich nicht dafür, rationale Ursachen oder Gründe für die Dinge zu finden.
    Das einzige, was Zuleica mir über unsere Reisen erzählte und was sich wie eine Erklärung anhörte, war, daß die Fähigkeit der Träumer, sich auf ihre zweite Aufmerksamkeit zu konzentrieren, diese zu lebenden Katapulten macht. Je stärker und makelloser die Träumer, desto weiter können sie ihre zweite Aufmerksamkeit in das Unbekannte hinausprojizieren, und desto länger dauert ihre Traum-Projektion an.
    Don Juan sagte, daß meine Reisen mit Zuleica keine Illusion seien und daß alles, was ich mit ihr zusammen getan hatte, ein Schritt zur Beherrschung der zweiten Aufmerksamkeit sei; mit anderen Worten, Zuleica lehrte mich die Wahrnehmungsbedingungen jenes anderen Reiches.
    Was diese Reisen aber genau waren, konnte er mir nicht erklären. Oder er wollte sich auf keine Erklärung festlegen. Er meinte, wenn er versuchte, die Wahrnehmungsbedingungen der zweiten Aufmerksamkeit mit den Wahrnehmungsbedingungen der ersten zu erklären, würde er sich nur hoffnungslos in Wörter verstricken. Er wollte, daß ich meine eigenen Schlüsse zog, und je mehr ich über die ganze Sache nachdachte, desto klarer wurde mir, daß seine Zurückhaltung einen funktionalen Zweck hatte.
    Unter Zuleicas Führung, durch ihre Belehrung über die zweite Aufmerksamkeit, machte ich tatsächlich Bekanntschaft mit Mysterien, die ganz sicher den Rahmen meiner Vernunft überstiegen, aber dennoch im Bereich der Möglichkeiten meiner ganzen Bewußtheit lagen. Ich lernte, in etwas Unbegreifliches zu reisen, und hatte schließlich - wie Emilito und Juan Tuma meine eigenen Geschichten von der Ewigkeit.

14. Florinda
    Nachdem Zuleica uns in den Feinheiten der Kunst des Träumens unterwiesen hatte, darin stimmten la Gorda und ich völlig überein, akzeptierten wir als unleugbare Tatsache, daß die Regel eine Landkarte ist, daß in uns noch eine andere Bewußtheit verborgen liegt und daß es möglich ist, in diese Bewußtheit einzutreten. Don Juan hatte vollbracht, was die Regel vorschrieb.
    Und die Regel bestimmte als nächsten Schritt, daß ich Florinda kennenlernte, die einzige unter seinen Kriegern, der ich noch nicht begegnet war. Don Juan sagte, ich müsse allein zu ihr gehen, denn was zwischen Florinda und mir ablaufen würde, ginge die anderen nichts an. Er sagte, daß Florinda meine persönliche Führerin sei, ganz als ob ich ein Nagual wie er selbst wäre. Eine ähnliche Beziehung hatte er einst mit jener Kriegerin aus dem Trupp seines Wohltäters gehabt, die mit Florinda vergleichbar war.
    Eines Tages verließ Don Juan mich vor Nelidas Haustür. Er sagte, ich solle hineingehen, denn drinnen erwarte mich Florinda.
    »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, sagte ich zu der Frau, die mir auf dem Flur entgegentrat.
    »Ich bin Florinda«, sagte sie.
    Wir sahen uns schweigend an. Ich war von Ehrfurcht ergriffen. Meine Bewußtheit war so scharf wie nur je. Nie wieder habe ich ein vergleichbares Gefühl

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