Die Kunst des Pirschens
spannte die Muskeln an ihrem Kinn an und schob die Oberlippe hoch, bis sie sich unter ihrer Nase vorwölbte. Ihr Gesicht war so verzerrt, daß ich zurückfuhr. Sie bemerkte meine Überraschung und entspannte ihre Gesichtsmuskeln.
»Komm doch, Gorda«, sagte ich. »Laß uns nach Mexico City fahren.«
»Klar. Warum nicht?« sagte sie. »Was brauche ich?«
Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet, und so war ich schließlich selbst schockiert.
»Nichts«, sagte ich. »Wir fahren so, wie wir sind.“
Ohne ein weiteres Wort ließ sie sich auf dem Beifahrersitz zurückfallen, und wir fuhren los nach Mexico City. Es war noch früh, nicht einmal Mittag. Ich fragte sie, ob sie es wagen würde, mit mir nach Los Angeles zu fahren. Sie wurde für einen Moment nachdenklich.
»Diese Frage habe ich gerade meinem leuchtenden Körper gestellt«, sagte sie.
»Was sagte er?«
»Er sagte, nur wenn die Kraft es erlaubt.«
In ihrer Stimme lag ein solcher Reichtum des Gefühls, daß ich den Wagen anhielt und sie umarmte. Meine Zuneigung zu ihr war in diesem Augenblick so tief, daß ich erschrak. Sie hatte nichts mit Sex oder mit dem Verlangen nach seelischem Beistand zu tun. Es war ein Gefühl, das alles übertraf, was ich kannte.
Daß ich la Gorda umarmte, brachte mir jenes Gefühl wieder, das ich schon vorher gehabt hatte; irgend etwas in mir, das bis dahin aufgestaut und in irgendwelche Nischen verbannt war, die ich nicht mehr bewußt erreichen konnte, war nahe daran hervorzubrechen. Damals wußte ich beinah, was es war, aber ich verlor es wieder, als ich es zu erfassen versuchte.
La Gorda und ich trafen am frühen Abend in Oaxaca ein. Ich parkte den Wagen in einer Seitenstraße, und wir gingen ins Zentrum der Stadt, auf die Plaza. Wir suchten die Bank, auf der Don Juan und Don Genaro immer zu sitzen pflegten. Sie war frei. Wir setzten uns in ehrfürchtigem Schweigen. Schließlich sagte la Gorda, daß sie schon viele Male mit Don Juan hier gewesen sei, und auch mit einem anderen, an den sie sich nicht erinnern konnte. Sie war sich nicht sicher, ob sie es vielleicht nur geträumt hatte.
»Was machtest du mit Don Juan auf dieser Bank?« fragte ich.
»Nichts. Wir saßen einfach da und warteten auf den Bus oder auf den Holzlastwagen, der uns in die Berge mitnehmen sollte«, antwortete sie.
Ich erzählte ihr, daß wir, als ich mit Don Juan auf dieser Bank saß, stundenlang miteinander geredet hatten.
Ich berichtete von seiner großen Vorliebe für Gedichte, und wie ich ihm immer vorlas, wenn wir sonst nichts zu tun hatten. Er lauschte den Gedichten, wobei er behauptete, daß nur die erste und manchmal noch die zweite Strophe wert waren, gelesen zu werden; der Rest, so fand er, sei ein Sichgehenlassen des Dichters. Unter den Hunderten von Gedichten, die ich ihm wohl vorgelesen habe, gab es nur sehr wenige, die er sich bis zum Schluß anhörte. Anfangs las ich ihm vor, was mir selbst gefiel; meine Vorliebe galt der abstrakten, sprachlich gewundenen intellektuellen Dichtung; später ließ er mich immer wieder das lesen, was ihm gefiel. Seiner Meinung nach mußte ein Gedicht knapp, am besten kurz sein. Und es mußte aus präzisen, treffenden Bildern von großer Einfachheit komponiert sein.
Wenn wir am Spätnachmittag auf dieser Bank in Oaxaca saßen, dann schien ein Gedicht von César Vallejo ihm immer der Inbegriff eines besonderen Gefühls der Sehnsucht. Ich rezitierte es für la Gorda aus dem Gedächtnis, weniger um ihr als mir selbst etwas Gutes zu tun:
Ich frage mich, was mag sie um diese Stunde tun,
vo‘n Schilf und wilden Kirschbäumen.
Jetzt, da diese Mattigkeit mich erstickt, und Blut
wie schläfriger Schnaps in mir taub wird.
Ich frage mich, was sie mit jenen Händen tut, die in Büßerhaltung einst gestärktes Weiß zu plätten pflegten an den Nachmittagen. Jetzt, da dieser Regen den Wunsch von mir nimmt weiterzugehen.
Ich frage mich, was wurde aus ihrem Rock mit Spitzen; aus ihren Mühen; aus ihrem Gang; aus ihrem Duft des Zuckerrohres dort im Fühlung. Sie muß wohl vor der Tür stehen, nach einer rasch fliegenden Wolke starren.
Ein wilder Vogel auf dem Strohdach wird rufen; und bebend wird sie schließlich sagen: »Gott, es ist kalt!«
Die Erinnerung an Don Juan war so unglaublich lebhaft. Es war nicht eine Erinnerung auf der Ebene meiner Gedanken, noch war sie es auf der Ebene meiner bewußten Empfindungen. Es war eine mir unbekannte Art von Erinnerung, die mich weinen ließ. Tränen schossen mir aus den
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