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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Gewißheit wurde und dann wieder ins Dunkel versank, um sich nur als Ärgernis und Frustration bemerkbar zu machen. Der Aufenthalt in jener Stadt beunruhigte uns auf geheimnisvolle Weise; oder besser gesagt, aus Gründen, die wir nicht kannten, wurden wir sehr aufgeregt. Ich war in einem höchst unlogischen Konflikt gefangen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals in dieser Stadt haltgemacht zu haben, und doch hätte ich schwören können, daß ich nicht nur dort gewesen war, sondern sogar eine Weile dort gelebt hatte. Es war keine deutliche Erinnerung; ich konnte mich nicht an einzelne Straßen oder Häuser erinnern. Was ich empfand, war vielmehr eine unbestimmte, aber starke Ahnung, daß sich bald in meinem Denken etwas klären würde. Ich war mir nicht sicher, was es war - vielleicht eine Erinnerung. Manchmal wurde diese unbestimmte Ahnung beherrschend, vor allem als ich ein bestimmtes Haus erblickte. Ich parkte den Wagen davor. La Gorda und ich betrachteten es vielleicht eine Stunde lang vom Wagen aus, aber keiner von uns beiden machte den Vorschlag, auszusteigen und hineinzugehen.
    Wir waren beide sehr angespannt. Wir fingen an, über ihre Vision von den zwei Bergen zu sprechen; unser Gespräch artete bald in einen Streit aus. Sie meinte, ich hätte ihr »Träumen« nicht ernst genommen. Unsere Temperamente prallten aufeinander, und schließlich brüllten wir uns an, weniger aus Wut als aus Nervosität. Endlich fing ich mich wieder und machte der Sache ein Ende.
    Auf dem Rückweg parkte ich den Wagen am Rand einer Sandstraße. Wir stiegen aus, um uns die Beine zu vertreten. Wir spazierten eine Weile umher. Es war zu windig, als daß wir Spaß daran gefunden hätten. La Gorda wirkte erregt. Wir gingen zum Wagen zurück und stiegen ein.
    »Wenn du doch nur dein Wissen aufbieten wolltest«, sagte la Gorda in flehendem Ton. »Du würdest wissen, daß es, wenn man die menschliche Form verliert ... «
    Sie unterbrach sich mitten im Satz. Anscheinend hatte meine düstere Miene sie dazu gebracht, sich zu besinnen. Sie erkannte meinen inneren Kampf. Wäre da irgendein Wissen in mir gewesen, das ich bewußt hätte aufbieten können, dann hätte ich es doch längst schon getan.
    »Aber wir sind leuchtende Wesen«, sagte sie im gleichen flehenden Ton. »Es kommt so sehr auf uns an. Du bist der Nagual. Auf dich kommt es noch viel mehr an.«
    »Was meinst du denn, sollte ich tun?« fragte ich.
    »Du mußt dich von deinem Wunsch lösen, dich festzuklammern«, sagte sie. »Mir ist genau das gleiche geschehen. Ich klammerte mich an alle Dinge, etwa an das Essen, das mir schmeckte, an die Berge, wo ich wohnte, an die Leute, mit denen ich gern redete. Am meisten aber klammerte ich mich an meinen Wunsch, geliebt zu werden.«
    Ich sagte ihr, daß ihre Empfehlung mir sinnlos erschien, denn ich war mir nicht bewußt, mich an irgend etwas anzuklammern. Sie aber beharrte darauf, ich müsse wissen, daß ich Schranken gegen den Verlust meiner menschlichen Form errichtete.
    »Unsere Aufmerksamkeit ist geschult, sich treu und brav zu konzentrieren«, fuhr sie fort. »Auf diese Weise halten wir die Welt in Gang. Deine erste Aufmerksamkeit hat gelernt, sich auf etwas zu konzentrieren, das mir ganz fremd, dir aber ganz vertraut ist. «
    Ich erzählte ihr, daß meine Gedanken immer um Abstraktionen kreisten, die eigentlich nicht Abstraktionen etwa im Sinn der Mathematik waren, sondern Urteile der Vernunft.
    »Jetzt ist es Zeit, dich von alledem zu lösen«, sagte sie. »Um deine menschliche Form zu verlieren, solltest du dich von diesem ganzen Ballast trennen. Du versuchst so stark gegenzusteuern, daß du dich selber lähmst.“
    Mir war nicht nach Streiten zumute. Was sie das Verlieren der menschlichen Form nannte, war ein zu unbestimmtes Konzept, als daß mir es an Ort und Stelle hätten erörtern können. Mich beschäftigte, was wir in dieser Stadt erlebt hatten. La Gorda wollte nicht darüber sprechen.
    »Es kommt einzig darauf an, daß du dein Wissen aufbietest«, sagte sie. »Du kannst es, wenn du mußt, wie damals, als Pablito fortging und du und ich aneinandergerieten.«
    Was an diesem Tag geschehen war, so meinte la Gorda, war ein Beispiel dafür, wie man sein Wissen sammelt. Ohne daß ich eigentlich wußte, was ich tat, hatte ich komplizierte Manöver ausgeführt, die das »Sehen« voraussetzten.
    »Du hast uns nicht einfach angegriffen«, sagte sie. »Du hast gesehen.«
    Sie hatte irgendwie recht. Etwas ganz Ungewöhnliches

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