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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Unbehagen, das ihre Bewegungen mir bereiteten, am besten beschreiben, wenn ich sage, daß es mir vorkam, als liefen die Bilder eines Films beschleunigt ab.
    Ein weiteres Merkmal, das mir zu schaffen machte, war, daß ich an ihnen keine Beine entdecken konnte. Ich hatte einmal die Tanzvorstellung einer Ballettgruppe gesehen. Die Tänzer ahmten die Bewegungen von Soldaten auf Schlittschuhen nach; um den Effekt zu steigern, trugen sie lose, bis an den Boden hängende Gewänder. So konnte man ihre Füße nicht sehen, und es entstand die Illusion, als glitten sie übers Eis. Die leuchtenden Eier, die vor mir vorbeizogen, vermittelten mir den Eindruck, als glitten sie über eine rauhe Oberfläche. Ihr Leuchten zuckte beinahe unmerklich auf und ab, aber doch deutlich genug, daß mir fast übel wurde. Wenn die Eier in Ruhestellung waren, wurden sie länglicher. Manche von ihnen wurden so lang und starr, daß mir das Bild einer hölzernen Ikone in den Sinn kam.
    Ein weiteres, noch beunruhigenderes Merkmal der leuchtenden Eier war, daß sie keine Augen hatten. Noch nie war mir so intensiv klargeworden, daß die Augen lebender Geschöpfe eine Anziehung auf uns ausüben. Die leuchtenden Eier waren durchaus lebendig; sie beobachteten mich mit großer Neugier. Ich sah, wie sie auf und abzuckten und sich vorbeugten, um mich zu beobachten, aber ohne irgendwelche Augen!
    Viele dieser leuchtenden Eier hatten schwarze Flecken, riesige Flecken an einer Stelle unterhalb ihrer Körpermitte. Andere hatten keine. La Gorda hatte mir erzählt, daß die Fortpflanzung am Körper von Männern wie Frauen Nachwirkungen zeitigt, indem sie ein Loch unter dem Nabel auftreten läßt, aber die Flecken auf diesen leuchtenden Eiern erschienen mir nicht wie Löcher.
    Es waren einfach Stellen ohne Leuchtkraft, aber sie hatten keine Tiefe, wie es bei einem wirklichen Loch der Fall gewesen wäre. Diejenigen mit den schwarzen Flecken erschienen mir weich, müde; der äußere Umriß ihrer Eiform war welk, er wirkte im Vergleich zu ihrem sonstigen Glanz düster. Diejenigen ohne Flecken dagegen waren blendend hell. Ich stellte mir vor, sie wären gefährlich. Sie vibrierten und waren von Energie und weißer Helligkeit erfüllt.
    La Gorda erzählte mir, daß sie in dem Augenblick, als ich meinen Kopf an ihren lehnte, in einen Zustand geraten sei, der dem »Träumen« glich. Sie war wach, konnte sich aber nicht bewegen.
    Sie war sich bewußt, daß die Leute sich um uns drängten. Dann »sah« sie, wie sie sich in leuchtende Flecken und schließlich in eiförmige Wesen verwandelten. Sie wußte nicht, daß auch ich »sah«. Zuerst hatte sie geglaubt, daß ich auf sie aufpaßte, aber irgendwann lastete mein Kopf so schwer auf ihr, daß sie ganz bewußt zu dem Schluß kam, auch ich müsse »sehen«. Erst nachdem ich mich aufgerichtet und den jungen Mann abgewehrt hatte, der sie befingerte, da sie zu schlummern schien, kam mir eine Ahnung davon, was möglicherweise mit ihr geschah.
    Unsere Visionen unterschieden sich insofern, als sie Frauen und Männer an der Form irgendwelcher Fäden unterscheiden konnte, die sie als »Wurzeln« bezeichnete. Die Frauen, so sagte sie, hatten dicke Büschel solcher Fäden, die einem Löwenschweif glichen; sie wuchsen an der Stelle der Genitalien nach innen. Diese Wurzeln, so erklärte sie mir, seien die Spender des Lebens. Das Embryo verbinde sich, um wachsen zu können, mit einer dieser nährenden Wurzeln und zehre sie gänzlich auf, wobei nur ein Loch übrigbleibe. Die Männer dagegen hätten eine Art Fäden, lebendig und beinahe ganz unabhängig von der leuchtenden Masse, die ihren Körper bildete.
    Ich fragte sie, was ihrer Meinung nach der Grund dafür wäre, daß wir »zusammen gesehen«
    hatten. Sie weigerte sich, dazu etwas zu sagen, forderte mich aber auf, ruhig mit meinen Mutmaßungen fortzufahren. Ich sagte ihr, daß mir nichts anderes als das Offenkundige einfiele: Die Gefühle mußten dabei eine Rolle gespielt haben.
    Nachdem la Gorda und ich uns am Spätnachmittag jenes Tages auf Don Juans Bank niedergelassen hatten, rezitierte ich das Gedicht, das er so sehr geliebt hatte, und ich stand unter einer starken Gefühlsspannung. Meine Emotionen mochten meinen Körper eingestimmt haben.
    Doch ich mußte auch den Umstand berücksichtigen, daß ich, indem ich das »Träumen« übte, gelernt hatte, in einen Zustand völliger Stille einzutreten. Ich war fähig, meinen inneren Dialog abzustellen und still zu verharren, als befände

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