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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Straße, ein Haus, eine Person, ein Gesicht, irgend etwas.
    Den dritten Zustand nannte ich passives Beobachten. Dabei betrachtet der Träumer nicht einen erstarrten Teil der Welt, sondern er beobachtet als »Augenzeuge« ein Ereignis. Es ist, als machte das Primat der Gesichts- und Gehörssinne diesen Zustand des Träumens hauptsächlich zu einer Sache der Augen und Ohren.
    Der vierte Zustand war für mich immer eine Phase, in der ich mich zum Handeln gedrängt fühlte. Dabei ist man gezwungen, etwas zu unternehmen, Schritte zu tun, das Beste aus der gegebenen Zeit zu machen. Diesen Zustand nannte ich die dynamische Initiative.
    La Gordas Vorschlag, auf mich zu warten, hatte etwas mit dem zweiten und dritten Zustand unseres Zusammen-Träumens zu tun. Als ich in den zweiten Zustand, die dynamische Wachsamkeit eintrat, sah ich eine Traum-Szene mit Don Juan und verschiedenen anderen Personen, darunter auch eine dicke Gorda. Bevor ich Zeit fand, mir zu überlegen, was ich da sah, spürte ich einen gewaltigen Ruck an meinem Arm, und ich erkannte irgendwie unklar, daß die wirkliche Gorda an meiner Seite war. Sie stand links von mir und hatte meinen linken Unterarm mit ihrer linken Hand gepackt. Ich spürte ganz deutlich, daß sie meine Hand an ihren Unterarm hob. Die Folge war, daß wir beide den Unterarm des anderen umfaßten. Dann fand ich mich im dritten Zustand des Träumens wieder, dem der passiven Beobachtung. Don Juan sagte mir, ich müsse mich um la Gorda kümmern und auf höchst selbstsüchtige Weise für sie sorgen - das heißt, als ob sie mein eigenes Selbst wäre.
    Sein Spiel mit den Worten entzückte mich. Ich empfand ein überirdisches Glück, mit ihm und den anderen zusammenzusein. Don Juan fuhr fort und erklärte mir, daß hier meine Selbstsucht einem großartigen Zweck dienen könne und daß es nicht unmöglich wäre, sie zu zügeln. Unter all den Menschen, die da versammelt waren, herrschte ein allgemeines Gefühl der Kameradschaft. Sie lachten über das, was Don Juan zu mir sagte, aber ohne mich zu verspotten. Don Juan sagte, daß der sicherste Weg, die Selbstsucht zu zügeln, über die täglichen Aktivitäten unseres Lebens führe, daß ich bei allem, was ich tat, tüchtig sei, weil ich niemanden hätte, der den Teufel aus mir herausbeutelte, und daß es für mich keine Kunst sei, aus eigener Kraft wie ein Pfeil zu fliegen. Wenn mir dagegen die Aufgabe übertragen würde, für la Gorda zu sorgen, würde meine unabhängige Tüchtigkeit in Fetzen gehen, und um zu überleben, müsse ich dann meine selbstsüchtige Sorge um mich selbst auf la Gorda übertragen. Nur indem ich ihr half, so sagte Don Juan mit allem Nachdruck, würde ich die Schlüssel zur Erfüllung meiner wahren Aufgabe finden.
    La Gorda legte ihre dicken Arme um meinen Hals. Don Juan mußte aufhören zu sprechen. Er lachte so sehr, daß er nicht fortfahren konnte. Ich hörte ein allgemeines Gelächter. Sie alle brüllten vor Lachen.
    Ich war verlegen und verärgert über la Gorda. Ich versuchte mich aus ihrer Umarmung zu befreien, aber ihre Arme waren fest um meinen Hals geschlungen. Don Juan bedeutete mir mit einem Handzeichen, damit aufzuhören. Er sagte, die geringfügige Verlegenheit, die ich empfand, sei nichts im Vergleich mit dem, was mir bevorstünde.
    Das Gelächter war ohrenbetäubend. Ich fühlte mich sehr glücklich, obwohl es mir unbehaglich war, mich mit la Gorda auseinandersetzen zu müssen, denn ich wußte nicht, was das bedeuten konnte.
    In diesem Augenblick meines Träumens änderte sich meine Blickrichtung, oder vielleicht sollte ich besser sagen, daß irgend etwas mich aus der Szene hinauszog und ich mich wie ein Zuschauer umzusehen begann. Wir befanden uns in einem Haus im Nord n Mexikos; das erkannte ich an der Umgebung, die von dort, wo ich stand, zum Teil zu sehen war. Ich konnte in der Ferne die Berge sehen. Ich erinnerte mich auch an die Ausstattung des Hauses. Wir befanden uns im hinteren Teil, auf einer überdachten, offenen Veranda. Einige der Anwesenden saßen auf klobigen Stühlen, aber die meisten standen oder saßen auf dem Fußboden. Ich erkannte jeden von ihnen. Es waren sechzehn Menschen. La Gorda stand neben mir und sah Don Juan an.
    Mir wurde bewußt, daß ich zwei verschiedene Gefühle in meinem Innern hegen konnte. Ich konnte entweder in die Traumszene eingehen und dabei spüren, wie ich eine lange verlorene Empfindung wiederentdeckte, oder ich konnte die Szene beobachten, und zwar in der Stimmung, die

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