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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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daß man eine kurze Atempause hat, um die Situation zu überdenken. Nun, auf dem Höhepunkt meiner Traurigkeit, verstand ich, was er damals gemeint hatte. Die Losgelöstheit hatte ich; nun lag es an mir, mich anzustrengen und die Pause richtig zu nutzen.
    Ich war mir nicht sicher, ob mein Wille etwas damit zu tun hatte oder nicht, aber plötzlich verschwand alle meine Traurigkeit; es war, als wäre sie nie dagewesen. Die Schnelligkeit meines Stimmungsumschwungs und seine Gründlichkeit beunruhigten mich.
    »Jetzt bist du da, wo ich bin«, rief la Gorda, nachdem ich ihr von meinem Stimmungsumschwung erzählt hatte. »Nach all diesen Jahren habe ich noch immer nicht gelernt, mit der Formlosigkeit umzugehen. Ich schwanke hilflos von einem Gefühl zum anderen, in ein und demselben Augenblick. Aufgrund meiner Formlosigkeit konnte ich den Schwesterchen helfen, aber ich war ihnen auch ausgeliefert. Jede von ihnen war stark genug, mich von einem Extrem ins andere fallen zu lassen.
    Das Problem lag darin, daß ich meine menschliche Form verloren hatte, bevor du die deine verlorst. Hätten du und ich sie hingegen zusammen verloren, dann hätten wir einander helfen können. So wie es war, ging's mit mir auf und ab, schneller als ich mich erinnern kann.«
    Ich mußte ihr gestehen, daß ihre Behauptung, formlos zu sein, mir immer als ein Irrtum erschienen war. Wie ich die Sache verstand, ging mit dem Verlust der menschlichen Form notwendig eine bestimmte Eigenschaft einher, nämlich eine Beständigkeit des Charakters, die angesichts ihres emotionalen Auf und Ab für sie unerreichbar war. Aufgrund dieser Tatsache hatte ich hart und ungerecht über sie geurteilt. Nachdem ich nun selbst meine menschliche Form verloren hatte, war ich in der Lage zu verstehen, daß die Formlosigkeit allenfalls zum Nachteil für ein nüchternes und ausgeglichenes Gemüt ist. Auch ist mit ihr nicht automatisch emotionale Stärke verbunden. Ein Aspekt des Losgelöstseins, nämlich die Fähigkeit, sich auf alles, was man tut, voll einzulassen, bezieht sich natürlich auf alles, was man tut, auch auf ein unbeständiges und regelrecht kleinliches Verhalten. Der Vorteil des Formlos-Seins ist, daß er uns eine kurze Pause gewährt, vorausgesetzt, daß wir die Selbstdisziplin und den Mut haben, diese zu nutzen.
    Endlich wurde mir la Gordas früheres Verhalten verständlich. Sie war seit Jahren formlos gewesen, ohne die notwendige Selbstdisziplin, und daher war sie dramatischen Stimmungsschwankungen ausgeliefert gewesen und unglaublichen Widersprüchen zwischen ihrem Tun und ihrem Wollen.
    Nach unserer ersten Erinnerung an die Nagual-Frau sammelten la Gorda und ich alle unsere Kräfte und versuchten tagelang, weitere Erinnerungen an den Tag zu bringen. Aber anscheinend gab es keine mehr. Ich selbst war wieder dort, wo ich gewesen war, bevor ich mich zu erinnern begonnen hatte. Intuitiv spürte ich, daß in mir noch sehr viel mehr vergraben lag, aber ich konnte nicht daran rühren. In meinem Geist gab es nicht die leiseste Ahnung irgendwelcher anderer Erinnerungen, die womöglich doch existierten.
    La Gorda und ich machten eine Zeit ungeheurer Verwirrung und starker Zweifel durch. In unserem Fall bedeutete das Formlos Sein, daß wir vom schlimmsten nur denkbaren Mißtrauen heimgesucht wurden. Wir hatten das Gefühl, lediglich Meerschweinchen in der Hand Don Juans zu sein, eines Menschen, mit dem wir vertraut zu sein wähnten, über den wir aber in Wirklichkeit nichts wußten. Wir feuerten uns gegenseitig mit unseren Zweifeln und Befürchtungen an. Die wichtigste Frage, die uns beschäftigte, war natürlich die Nagual-Frau. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf sie konzentrierten, wurde unsere Erinnerung an sie so scharf, daß es ganz unbegreiflich war, wie wir sie hatten vergessen können. Und dies gab immer wieder Anlaß zu Spekulationen darüber, was Don Juan eigentlich mit uns angestellt hatte. Diese Vermutungen führten uns leicht zu dem Gefühl, benutzt worden zu sein. Wir empörten uns über die unvermeidliche Schlußfolgerung, daß er uns manipuliert hatte, daß er uns hilflos und uns selber fremd gemacht hatte.
    Nachdem unser Zorn erschöpft war, begann die Furcht uns zu beschleichen, denn wir mußten mit der grauenhaften Möglichkeit rechnen, daß Don Juan vielleicht noch schädlichere Dinge mit uns angestellt haben mochte.

7. »Zusammen träumen«
    Um unsere Qualen für eine Weile zu lindern, schlug ich eines Tages vor, wir sollten uns in das Träumen

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