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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ich im Rahmen unseres Themas vorbringen konnte, knapp wurden. Dann ereignete sich etwas ganz anderes, und ich merkte, wie ich dem Klang meiner eigenen Stimme lauschte. Ich sprach zu la Gorda, ohne daß ich selbst es wollte. Wörter, die in mir angestaut gewesen und jetzt frei zu werden schienen, schwangen sich in unvorstellbare Höhen der Absurdität. Ich redete und redete, bis irgend etwas mir Einhalt gebot. Ich erinnerte mich daran, daß Don Juan der Nagual-Frau und mir auf jener Bank in Oaxaca von einem gewissen menschlichen Wesen erzählt hatte, dessen Gegenwart für ihn all das zusammenfasste, was er sich von menschlicher Gesellschaft ersehnte oder erwartete. Es war eine Frau, die für ihn all das bedeutete, was die Nagual-Frau für mich war, eine Partnerin, ein Gegenstück. Sie hatte ihn verlassen, genau wie die Nagual-Frau mich verlassen hatte. Seine Gefühle für sie waren unverändert und entzündeten sich an der Traurigkeit, die manche Gedichte in ihm hervorriefen.
    Ich erinnerte mich auch, daß es die Nagual-Frau gewesen war, die mir die Gedichtbände gab.
    Sie hatte sie stapelweise im Kofferraum ihres Wagens. Und auf ihre Anregung hin geschah es, daß ich Don Juan Gedichte vorlas. Auf einmal war die physische Erinnerung an die Nagual-Frau, wie sie mit mir auf jener Bank saß, so klar, daß ich unwillkürlich nach Luft schnappen mußte und mein Brustkorb anschwoll. Ein bedrückendes Verlustgefühl, stärker als jedes Gefühl, das ich jemals gehabt hatte, ergriff von mir Besitz. Ich krümmte mich zusammen, denn ein reißender Schmerz fuhr durch mein rechtes Schulterblatt. Und da war noch etwas anderes, was ich wußte, eine Erinnerung, die ein Teil meiner selbst nicht freigeben wollte.
    Ich brauchte alles, was von meinem Schild der Intellektualität noch übrig war, als einziges Mittel, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich sagte mir immer wieder, daß la Gorda und ich uns die ganze Zeit über auf zwei völlig verschiedenen Ebenen bewegt hätten. Sie erinnerte sich an viel mehr als ich, aber sie war nicht neugierig; sie hatte es nicht gelernt, sich und anderen Fragen zu stellen. Dann aber wurde mir klar, daß ich nicht viel besser dran war. Ich war immer noch so nachlässig, wie Don Juan einmal gesagt hatte, daß ich es sei. Ich hatte es nie vergessen, daß ich Don Juan Gedichte vorzulesen pflegte, und doch war es mir nie in den Sinn gekommen, mich über die Tatsache zu wundern, daß ich nie einen spanischen Gedichtband besessen, auch nie einen im Auto mitgehabt hatte.
    La Gorda störte mich aus meiner Grübelei auf. Sie war beinahe hysterisch. Schreiend sagte sie, sie habe soeben herausgefunden, daß die Nagual-Frau irgendwo in unserer Nähe sein müsse.
    Ähnlich wie wir hätten fortgehen müssen, um einander zu finden, so sei die Nagual-Frau fortgegangen, um uns zu finden. Die Kraft ihrer Logik überzeugte mich fast. Dennoch wußte irgend etwas in mir, daß es sich nicht so verhielt. Es war die Erinnerung in mir, die ich mir nicht vorzustellen wagte.
    Ich wollte mit la Gorda eine Debatte anfangen, aber es gab keinen Grund dafür; mein Schild der Intellektualität und der Wörter reichten nicht aus, die Wucht der Erinnerung an die Nagual-Frau aufzufangen. Ihre Auswirkung ließ mich straucheln, sie war verheerender noch als die Furcht vor dem Sterben.
    »Die Nagual-Frau hat irgendwo Schiffbruch erlitten«, sagte la Gorda schwach. »Sie ist wahrscheinlich im Stich gelassen worden, und wir tun nichts, um ihr zu helfen.«
    »Nein! Nein!« schrie ich. »Sie ist nicht mehr hier.«
    Ich wußte nicht genau, warum ich das sagte, und doch wußte ich, daß es sich so verhielt. Eine Weile versanken wir in eine tiefe Melancholie, die mit dem Verstand nicht mehr auszuloten war. Zum erstenmal empfand ich in der Erinnerung an das Ich, als das ich mich kenne, eine wahre, grenzenlose Traurigkeit; eine schreckliche Unvollkommenheit. Da gab es irgendwo in mir eine Wunde, die sich wieder geöffnet hatte. Diesmal konnte ich nicht mehr, wie ich es in der Vergangenheit so oft getan hatte, hinter einem Schleier des Geheimnisses und des Nichtwissens Zuflucht nehmen. Nicht zu wissen, war ein Segen für mich gewesen. Einen Augenblick glitt ich in eine gefährliche Depression. La Gorda fing mich auf.
    »Ein Krieger ist jemand, der die Freiheit sucht«, sagte sie mir ins Ohr. »Traurigkeit ist nicht Freiheit. Wir müssen uns aus ihr hinauswinden.«
    Ein Gefühl des Losgelöstseins zu haben, so hatte Don Juan gesagt, führe dazu,

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