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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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fortzugehen, darum packte ich dich am Arm. Dann schaute ich hin und sah den Nagual Juan Matus, dich und mich und andere Leute in Vicentes Haus. Du warst jünger, und ich war fett.«
    Die Erwähnung von Vicentes Haus brachte mir eine plötzliche Erkenntnis. Ich erzählte la Gorda, daß ich einmal, als ich durch Zakatekas im Norden Mexikos fuhr, einem seltsamen Zwang gefolgt war und einen von Don Juans Freunden, nämlich Vicente, besucht hatte, wobei mir gar nicht bewußt war, daß ich damit unabsichtlich in einen verbotenen Bereich eindrang, denn Don Juan hatte mich niemals mit ihm bekannt gemacht. Vicente gehörte, wie die Nagual-Frau, zu einer anderen Sphäre, zu einer anderen Welt. Es war kein Wunder, daß la Gorda so erschüttert war, als ich ihr einmal von meinem Besuch bei Vicente erzählte. Wir kannten ihn so gut. Er stand uns ebenso nahe wie Don Genaro, oder vielleicht noch näher. Und doch hatten wir ihn vergessen, genau wie wir die Nagual-Frau vergessen hatten.
    An diesem Punkt machte la Gorda eine gewaltige Abschweifung. Gemeinsam erinnerten wir uns, daß Vicente, Genaro und Silvio Manuel die Freunde Don Juans, seine Genossen waren. Sie waren durch eine Art Schwur miteinander verbunden. La Gorda und ich konnten uns nicht daran erinnern, was es wohl war, das sie verband. Vicente war kein Indianer. Er war in seiner Jugend Apotheker gewesen, und er war der Gelehrte in der Gruppe, ein wahrer Heilkundiger, der sie alle bei guter Gesundheit hielt.
    Er hatte eine Leidenschaft für die Botanik. Ich war ohne jeden Zweifel davon überzeugt, daß er mehr von Pflanzen verstand als irgendein lebender Mensch auf Erden. La Gorda und ich erinnerten uns, daß es Vicente gewesen war, der alle, auch Don Juan, im Gebrauch der medizinischen Pflanzen unterwies. Er nahm besonderen Anteil an Nestor, und wir alle glaubten, daß Nestor einmal so werden würde wie er. »Wenn ich mich an Vicente erinnere, dann muß ich an mich selbst denken«, sagte la Gorda. »Ich muß daran denken, was für eine unerträgliche Frau ich war.
    Das Schlimmste, was einer Frau passieren kann, ist, wenn sie Kinder hat, wenn sie Löcher in ihrem Körper hat und dabei immer noch wie ein kleines Mädchen handelt. Das war mein Problem. Ich wollte schlau sein, und ich war leer. Und sie ließen es zu, daß ich mich zum Narren machte, sie ermutigten mich, die Verrückte zu spielen.«
    »Wer sind >sie<, Gorda?« fragte ich.
    »Der Nagual, Vicente und all die Leute, die in Vicentes Haus waren, als ich mich wie ein Schaf mit dir benahm.«
    La Gorda und ich hatten gleichzeitig eine Erkenntnis. Die anderen hatten ihr nur erlaubt, mir gegenüber so unerträglich zu sein. Kein anderer duldete ihren Unfug, obwohl sie es bei jedem versuchte.
    »Vicente duldete mich wohl«, sagte la Gorda. »Er spielte mein Spiel mit. Ich nannte ihn sogar Onkel. Als ich einmal versuchte, zu Silvio Manuel Onkel zu sagen, riß er mir mit seinen klauenartigen Händen beinahe die Haut von den Achselhöhlen.«
    Wir versuchten unsere Aufmerksamkeit auf Silvio Manuel zu konzentrieren, aber wir konnten uns nicht daran erinnern, wie er aussah. Wir spürten in unseren Erinnerungen seine Gegenwart, aber er war keine Person, er war nur ein Gefühl.
    Was nun die Traumszene selbst betraf, so erinnerten wir uns, daß sie eine getreuliche Kopie dessen war, was an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit in unserem Leben wirklich stattgefunden hatte; und doch war es uns nicht möglich festzustellen, wo und wann es gewesen war. Ich wußte aber, daß ich mich um la Gorda kümmerte, und zwar, um mich für die Schwierigkeiten der Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu trainieren. Es war ein unabdingbares Gebot, daß ich eine Stimmung der Unbefangenheit angesichts schwieriger sozialer Situationen verinnerlichte, und niemand hätte da ein besserer Trainer sein können als la Gorda. Meine schwachen Erinnerungsblitze an eine fette Gorda stammten aus jenen Lebenstagen, denn ich hatte Don Juans Befehle wortwörtlich befolgt.
    La Gorda sagte, daß die Stimmung der Traumszene ihr nicht gefallen habe. Sie hätte es vorgezogen, sie nur zu beobachten, aber ich hätte sie in ihre alten Empfindungen hineingezogen, die ihr verhasst waren. Ihr Unbehagen war so stark gewesen, daß sie mich ganz bewußt in den Arm kniff, um unsere Teilnahme an etwas ihr so Verhasstem zu beenden.
    Am nächsten Tag vereinbarten wir eine weitere Sitzung des Zusammen-Träumens. Sie begann in ihrem Schlafzimmer, ich in meinem

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