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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Hause.
    Ich gelangte ganz leicht in den ersten Zustand, die dynamische Wachsamkeit. Ich hatte ein Empfinden körperlichen Wohlbehagens, ein Prickeln, das von meinem Solarplexus ausstrahlte und das sich in den Gedanken umsetzte, daß wir diesmal hervorragende Ergebnisse erzielen würden. Dieser Gedanke wandelte sich zu einer nervösen Erwartung. Ich wurde mir bewußt, daß meine Gedanken von dem Prickeln in der Mitte meiner Brust ausgingen. Doch im gleichen Augenblick, als ich anfing mich zu besinnen, hörte das Prickeln auf. Es war wie ein elektrischer Strom, den ich ein- und abschalten konnte.
    Das Prickeln setzte wieder ein, diesmal noch ausgeprägter als zuvor, und plötzlich fand ich mich Auge in Auge mit la Gorda; es war, als wäre ich um eine Straßenecke gebogen und mit ihr zusammengestoßen. Ich versenkte mich ganz darein, sie anzusehen. Sie war so absolut wirklich, so sehr sie selbst, daß ich das Bedürfnis verspürte, sie anzufassen. In diesem Augenblick brach die reinste überirdische Liebe aus mir hervor. Ich fing hemmungslos an zu weinen.
    Rasch versuchte la Gorda unsere Arme zu verschränken, um mein Sichgehenlassen zu beenden, aber sie konnte sich nicht
    bewegen. Wir sahen uns um. Diesmal gab es keine feste Szenerie vor unseren Augen, kein statisches Bild. Ich hatte eine plötzliche Einsicht und sprach la Gorda an. Ich sagte, wir hätten, weil wir einander angesehen hatten, das Erscheinen der Traumszene verpaßt. Erst nachdem ich gesprochen hatte, wurde mir klar, daß wir uns in einer neuen Situation befanden. Der Klang meiner Stimme erschreckte mich. Es war eine fremde Stimme, rauh und unangenehm. Sie gab mir ein Gefühl körperlichen Abscheus ein.
    La Gorda erwiderte, wir hätten überhaupt nichts verpaßt, vielmehr sei unsere zweite Aufmerksamkeit von etwas anderem gefangengenommen worden. Sie lächelte und verzog mit gespitzten Lippen den Mund - eine Geste, die Überraschung und Ärger über den Klang ihrer eigenen Stimme ausdrückte.
    Ich fand die neue Erfahrung, im Träumen zu sprechen, ganz faszinierend, denn wir träumten nicht von einer Szene, in der wir sprachen - wir unterhielten uns tatsächlich. Und es erforderte eine einzigartige Anstrengung, ganz ähnlich meiner anfänglichen Bemühung, im Träumen eine Treppe hinunterzugehen.
    Ich fragte sie, ob sie den Klang meiner Stimme komisch fände. Sie bestätigte es kopfnickend und lachte laut auf. Der Klang ihres Lachens war schockierend. Ich erinnerte mich daran, daß Don Genaro manchmal die seltsamsten und beängstigendsten Geräusche hervorbrachte. La Gordas Gelächter war von dieser Art. Und jetzt kam mir die Erkenntnis, daß la Gorda und ich ganz spontan in unsere Traumkörper eingetreten waren.
    Ich wollte ihre Hand halten. Ich versuchte es, konnte aber meinen Arm nicht bewegen. Da ich schon einige Erfahrung mit der Fortbewegung in diesem Zustand hatte, zwang ich mich, an la Gordas Seite zu gehen. Es war mein Wunsch, sie zu umarmen, aber statt dessen trat ich so nah an sie heran, daß wir miteinander verschmolzen. Ich war meiner selbst als individuelles Ich bewußt, und gleichzeitig fühlte ich mich als Teil von la Gorda. Dieses Gefühl war mir ungemein angenehm.
    Wir blieben verschmolzen, bis irgend etwas unsere Umarmung störte. Ich spürte einen Befehl, die Umgebung, in der wir uns befanden, zu untersuchen. Als ich genauer hinsah, erinnerte ich mich ganz deutlich, sie schon einmal gesehen zu haben. Wir waren umgeben von kleinen runden Hügeln, die wie Sanddünen aussahen. Sie umgaben uns von allen Seiten, in jeder Richtung, bis hin zum Horizont. Sie schienen aus etwas zu bestehen, das wie blassgelber Sandstein oder wie grobe Schwefelkörner aussah. Von gleicher Farbe war der Himmel; er war sehr niedrig und bedrückend. Da waren gelbliche Nebelbänke oder so etwas wie gelber Dampf, der an bestimmten Stellen vom Himmel herabhing. Dann bemerkte ich, daß la Gorda und ich offenbar atmeten. Ich konnte mit den Händen meinen Brustkorb nicht befühlen, aber ich spürte, wie er sich dehnte, wenn ich einatmete. Die gelben Dämpfe waren offenbar nicht schädlich für uns.
    Gleichzeitig begannen wir uns zu bewegen, langsam, vorsichtig, beinahe war es wie Gehen.
    Nach kurzer Entfernung wurde ich sehr müde, und la Gorda erging es genauso. Wir glitten knapp über dem Boden dahin, und sich auf diese Weise fortzubewegen, war offenbar sehr anstrengend für unsere zweite Aufmerksamkeit; es erforderte ein unheimliches Maß an Konzentration. Es war

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