Die Kunst des Pirschens
war, noch etwas zu sagen.
Wir hielten das Gefühl der gemeinsamen Verbundenheit noch eine Weile aus, und dann überwältigte es uns beide. La Gorda und ich konnten uns nur allmählich beruhigen. Endlich begann ich zu sprechen. Nicht, weil ich es nötig gefunden hätte, noch einmal zu wiederholen, war wir gemeinsam fühlten und wußten; sondern nur, um unsere Gesprächsbasis zu festigen, sagte ich ihr, daß ich wohl wisse, in welcher Weise wir unvollständig waren, daß ich mein Wissen aber nicht in Worte fassen könne.
»Es gibt so viele viele Dinge, die wir wissen«, sagte sie. »Und doch können wir sie nicht für uns arbeiten lassen, weil wir nicht wirklich wissen, wie wir sie aus uns herausbringen sollen. Du hast eben angefangen, diesen Druck zu verspüren. Ich habe ihn schon seit Jahren. Ich weiß, und doch weiß ich nicht. Die meiste Zeit stolpere ich über mich selbst und höre mich wohl an wie eine Närrin, wenn ich zu sagen versuche, was ich weiß.«
Ich verstand, was sie meinte, und ich verstand sie auf körperlicher Ebene. Ich wußte irgend etwas durchaus Praktisches und in sich Evidentes über den Willen, und darüber, was la Gorda das andere Selbst genannt hatte, und doch konnte ich kein einziges Wort von dem hervorbringen, was ich wußte - nicht, weil ich zurückhaltend oder verlegen gewesen wäre, sondern weil ich nicht wußte, wo ich anfangen oder wie ich mein Wissen ordnen sollte.
»Der Wille ist eine so vollkommene Kontrolle der zweiten Aufmerksamkeit, daß er das andere Selbst genannt wird«, sagte la Gorda nach einer langen Pause. »Trotz allem, was wir getan haben, kennen wir nur ein winziges Stück vom anderen Selbst. Der Nagual hat es uns selbst überlassen, unser Wissen zu vervollständigen. Das ist unsere Aufgabe des Erinnerns.«
Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, als wäre ihr eben etwas eingefallen.
»Heiliger Jesus! Wir erinnern uns ja an das andere Selbst!« rief sie, und ihre Stimme grenzte fast an Hysterie; dann beruhigte sie sich wieder und fuhr in einem gedämpften Ton fort:
»Offensichtlich waren wir schon einmal dort, und die einzige Art, uns daran zu erinnern, ist die Art, wie wir's tun, nämlich indem wir unsere Traumkörper abschießen, während wir zusammen träumen.«
»Was meinst du damit: unsere Traumkörper abschießen?« fragte ich.
»Du hast es mit eigenen Augen gesehen, wie Genaro seinen Traumkörper abzuschießen pflegte«, sagte sie. »Er hebt ab wie ein langsames Geschoss; in Wirklichkeit bindet er sich an seinen physischen Körper und entbindet sich von ihm mit einem lauten Knacken. Der Nagual erzählte mir, daß Genaros Traumkörper die meisten der Dinge tun konnte, die wir auch normalerweise tun; in dieser Form kam er immer zu dir, um dir einen Schlag zu versetzen Heute weiß ich, worauf der Nagual und Genaro hinauswollten. Sie wollten, daß du dich erinnerst, und zu diesem Zweck pflegte Genaro vor deinen Augen unglaubliche Taten zu vollbringen indem er seinen Traumkörper abschoss, aber es war vergeblich. «
»Ich habe nie gewußt, daß er in seinem Traumkörper war«, sagte ich.
»Du hast es nie gewußt, weil du nicht beobachtet hast«, sagte sie. » Genaro versuchte es dich wissen zu lassen, indem er Dinge zu tun versuchte, die der Traumkörper sonst nicht tun kann, wie essen, trinken usw. Der Nagual erzählte mir, wie Genaro immer mit dir scherzte und sagte, er würde scheißen gehen und die Berge zittern lassen.«
»Warum kann der Traumkörper solche Dinge nicht tun?« fragte ich.
»Weil der Traumkörper nicht mit der Absicht, zu essen oder zu trinken, umgehen kann«, erwiderte sie.
»Was meinst du damit, Gorda?« fragte ich.
»Genaros große Leistung war, daß er in seinem Träumen die Absicht des Körpers lernte«, erklärte sie. »Er vollendete, was du erst begonnen hast. Er konnte seinen ganzen Körper träumen - so vollkommen, wie es nur möglich war. Doch der Traumkörper hat eine andere Absicht als die Absicht des Körpers. Der Traumkörper kann zum Beispiel durch eine Wand gehen, weil er die Absicht kennt, sich in Luft aufzulösen. Der physische Körper kennt die Absicht, zu essen, aber nicht die des Sichauflösens. Durch eine Wand zu gehen, wäre für Genaros Körper ebenso unmöglich, wie es seinem Traumkörper unmöglich wäre, zu essen.«
La Gorda schwieg eine Weile, als wollte sie abschätzen, was sie eben gesagt hatte. Ich wollte abwarten, bevor ich ihr meine Fragen stellte.
»Genaro hat nur die Absicht des
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