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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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waren nicht hölzern, sie schienen weich und hohl wie Schilfrohre zu sein, waren aber mit langen, abscheulich aussehenden, nadelförmigen Dornen bedeckt. Daß die Stängel hohl waren, vermutete ich, nachdem ich einige alte, abgestorbene Pflanzen gesehen hatte, die vertrocknet und auf den Boden gefallen waren.
    Der Boden war sehr dunkel und schien feucht zu sein. Ich versuchte mich zu bücken und ihn anzufassen, aber ich konnte mich nicht bewegen. La Gorda gab mir durch ein Zeichen zu verstehen, ich solle meine Körpermitte einsetzen. Mir wurde klar, daß ich, wenn ich dies täte, mich nicht zu bücken brauchte, um den Boden zu berühren. Es gab etwas an mir, es war wie ein Tentakel, das fühlen konnte, aber ich konnte nicht sagen, was ich damit fühlte. Es gab keine Kriterien, um eine Empfindung von der anderen zu unterscheiden. Der Boden, den ich berührte, war offenbar Ackerboden, aber dies stellte ich nicht durch meinen Tastsinn fest, sondern durch ein visuelles Zentrum, das ich in mir zu haben schien. Damit geriet ich in einen intellektuellen Zwiespalt: Warum erschien das Träumen mir als Produkt meines Sehvermögens? War es etwa wegen der Vorherrschaft des Visuellen in unserem täglichen Leben? Die Frage war sinnlos. Ich war nicht in der Lage, sie zu beantworten, und das einzige, was meine Grübeleien bewirkten, war eine Schwächung meiner zweiten Aufmerksamkeit.
    La Gorda rüttelte mich aus meinen Überlegungen auf, indem sie mir einen kräftigen Stoß versetzte. Ich verspürte eine schockähnliche Empfindung, ein Beben in meinem Innern. Sie deutete nach vorn. Dort lag der Säbelzahntiger wie üblich auf dem Felsband, wo ich ihn immer gesehen hatte. Wir näherten uns ihm. Er stand auf. Seine Größe war verblüffend. Was mich am meisten überraschte, war seine Breite. Ich wußte, la Gorda wollte, daß wir an diesem Tiger vorbei zur anderen Seite des Hügels schlichen. Ich wollte ihr sagen, daß es vielleicht gefährlich werden könnte, aber ich fand keine Möglichkeit, ihr diese Nachricht zu übermitteln. Der Tiger schien wütend und erregt. Er hockte auf seinen Hinterbeinen und krümmte den Rücken, als ob er sich anschickte, auf uns loszustürzen.
    Ich war entsetzt; la Gorda drehte sich lächelnd zu mir um. Ich wußte, sie wollte mir sagen, ich solle mich nicht meiner Panik überlassen, weil der Tiger ein geisterartiges Gebilde sei. Wir waren nur noch sechs Schritte von dem Felsband entfernt. Wir mußten den Kopf heben, um den Tiger zu sehen. Er kauerte sprungbereit. Wir blieben stehen.
    La Gorda lächelte höhnisch über meine Furcht, ganz als wäre das, was wir vor uns hatten, tatsächlich nur das, was es zu sein schien ein Geist. Mit einem Kopfnicken forderte sie mich auf, weiterzugehen. Auf irgendeine unbegreifliche Weise wußte ich, daß der Tiger ein Wesen war, nicht im faktischen Sinn unserer alltäglichen Welt, aber gleichwohl real. La Gorda und ich träumten, daher hatten wir die »Faktizität der Welt« verloren. In diesem Augenblick standen wir mit dem Tiger auf gleichem Fuß, und unsere Existenz war ebenso geisterhaft.
    Auf la Gordas quengelndes Drängen hin taten wir noch einen weiteren Schritt. Der Tiger sprang vom Sims herab. Ich sah seinen gewaltigen Körper durch die Luft schnellen und direkt auf mich zukommen. Ich verlor das Gefühl, daß ich träumte. Für mich war der Tiger real, und gleich würde ich in Stücke gerissen werden. Ein chaotisches Trommelfeuer von Lichtern, Bildern und den intensivsten Primärfarben, die ich je gesehen hatte, blitzte überall um mich her auf. Ich erwachte in meinem Studierzimmer.
    Nach einer anfänglichen Lustlosigkeit - vielleicht war es auch die Furcht vor dem Scheitern - wurden wir sehr tüchtig in unserem Zusammen- Träumen. Ich hatte jetzt die Gewißheit gewonnen, daß es uns gelungen war, uns unseres Losgelöstseins zu versichern, und nun hatten wir keine Eile mehr. Aber nicht das Ergebnis unserer Anstrengungen motivierte uns, weiterzumachen. Vielmehr war es ein von außen kommender Zwang, der uns den Elan gab, makellos zu handeln, ohne an Belohnung zu denken. Unsere folgenden Sitzungen waren in der Form, nicht aber im Inhalt ähnlich wie die ersten. Ihr auffälligstes Merkmal war die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der wir in den zweiten Zustand des Träumens, in die dynamische Wachsamkeit eintraten.
    Die Szenen, die uns nun widerfuhren, drehten sich um weitere vergessene Ereignisse, bei denen la Gorda und ich eine wichtige Rolle gespielt

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