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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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zweiten Aufmerksamkeit.
    La Gorda glaubte, der Nagual Juan Matus hätte sich bemüht, uns mit Hilfe der Selbstkontrolle der zweiten Aufmerksamkeit durch das Träumen zum anderen Selbst zu führen. Er brachte uns in direkten Kontakt mit gewissen Aspekten der zweiten Aufmerksamkeit, und zwar durch körperliche Manipulation. La Gorda erinnerte sich, daß er sie oft zwang, von einer Seite zur anderen zu wechseln, indem er ihr einen Stoß versetzte oder ihr den Rücken massierte.
    Manchmal, so sagte sie, gab er ihr sogar einen kräftigen Schlag auf das rechte Schulterblatt oder daneben. Solche Schläge bewirkten bei ihr den Eintritt in einen Zustand ungewöhnlicher Klarheit. La Gorda kam es so vor, als ob in diesem Zustand alles schneller ablief, und doch hatte sich in der Welt nichts geändert.
    Diese Erklärung trug la Gorda mir vor, einige Wochen bevor ich mich erinnerte, daß es auch mir selbst so ergangen war. Immer wieder hatte Don Juan mir unverhofft einen Schlag auf den Rücken versetzt. Ich spürte den Schlag immer am Rückgrat, oben zwischen den Schulterblättern. Auf diesen Schlag folgte stets eine ungewöhnliche Klarheit. Die Welt war dieselbe, aber schärfer. Alles stand für sich. Diese Schärfe rührte womöglich daher, daß meine Fähigkeit, vernünftig zu denken, durch Don Juans Schlag betäubt worden war, was es mir ermöglichte, ohne ihre Beteiligung wahrzunehmen.
    In diesem klaren Zustand blieb ich unbegrenzt lange, bis Don Juan mir wieder einen Schlag auf die gleiche Stelle gab, um mich in einen normalen Zustand der Bewußtheit zurückkehren zu lassen. Gestoßen oder massiert aber hatte er mich nie; es war immer ein direkter, kräftiger Schlag, nicht wie ein Faustschlag, sondern eher wie ein Schlag mit der flachen Hand, der mir für einen Augenblick den Atem nahm. Im nächsten Moment atmete ich tief ein, wie um die Luft zu ersetzen, die ich ausgestoßen hatte.
    La Gorda berichtete mir von einer ähnlichen Wirkung bei ihr; durch den Schlag des Nagual wurde alle Luft aus ihren Lungen getrieben, und gleich darauf mußte sie besonders tief durchatmen, um ihre Lungen zu füllen. Sie erzählte auch, daß sie niemals in die Bewußtheit des Alltags zurückgestoßen worden war; sie kehrte aus eigner Kraft zurück, aber ohne zu wissen wie. La Gorda meinte, daß der Atem der ausschlaggebende Faktor sei. Das Entscheidende waren ihrer Meinung nach die tiefen Atemzüge, die sie tun mußte, nachdem sie den Schlag empfangen hatte; aber sie konnte nicht erklären, auf welche Weise das Atmen ihre Wahrnehmung und ihre Bewußtheit beeinflusste.
    Ihre Einschätzung der Sache erschien mir bedeutsam. Ich mußte zugeben, daß Don Juans unverhoffte Schläge stets alle Luft aus meinen Lungen trieben. Als Kind und auch noch als Erwachsener war mir manchmal die Luft weggeblieben, nachdem ich auf den Rücken gefallen war. Die Wirkung der Schläge, die Don Juan mir versetzte, war eine ganz andere. Sie waren nicht mit Schmerz verbunden; vielmehr bewirkten sie eine unvorstellbare Empfindung. Wollte ich deren Eigenschaft beschreiben, so käme ich der Sache am nächsten, wenn ich sagte, daß sie eine sensorische Empfindung der Trockenheit in mir hervorriefen. Die Schläge auf meinen Rücken trockneten meine Lungen aus und vernebelten alles andere. Dann mußte ich keuchend, mit langen raschen Zügen Luft holen, bis ich wieder normal atmen konnte. La Gordas Einschätzung beruhte auf ihrer Wahrnehmung, daß ihr nach dem Schlag des Nagual alles dunstig erschien, daß aber dann, wenn sie zu atmen anfing, alles kristallklar wurde, als ob der Atem der Katalysator, der ausschlaggebende Faktor wäre.
    Etwas Ähnliches passierte mir immer bei der Rückkehr in die Bewußtheit des täglichen Lebens.
    Durch den Schlag wurde mir alle Luft genommen, und wenn ich dann meine Lungen füllte, wurde die neblige Welt, die ich sah, klarer.
    Ein weiteres Merkmal dieser Zustände gesteigerter Bewußtheit war die unvergleichliche Fülle der persönlichen Interaktionen, eine Fülle, die unsere Körper als Gefühl der Schnelligkeit empfanden. Unser Hin und Her zwischen der rechten und der linken Seite ließ uns leichter erkennen, daß auf der rechten Seite zuviel Energie und Zeit für die Aktionen und Interaktionen unseres täglichen Lebens aufgebraucht wird. Auf der linken Seite dagegen gibt es ein angelegtes Bedürfnis nach Einfachheit und Schnelligkeit.
    La Gorda konnte nicht beschreiben, was diese Schnelligkeit wirklich war, und ich konnte es auch nicht.

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