Die Kunst des Pirschens
Bestenfalls könnte ich sagen, daß ich auf der linken Seite die Bedeutung der Dinge sehr präzise und direkt erfassen konnte. Jeder Aspekt meiner Aktivitäten war frei von Vorbereitungen oder Einleitungen. Ich handelte, und dann rastete ich. Ich ging voran und zog mich zurück ohne einen jener Denkprozesse, die ich bei mir kenne. Dies war für la Gorda und mich gleichbedeutend mit Schnelligkeit.
Irgendwann stellten la Gorda und ich fest, daß die Fülle unserer Wahrnehmungen auf der linken Seite eine nachträgliche Erkenntnis war. Unsere Interaktionen erschienen uns reichhaltig - und zwar im Licht unserer Fähigkeit, uns daran zu erinnern. Jetzt erkannten wir, daß wir, solange wir uns in diesen Zuständen gesteigerter Bewußtheit befanden, alles in einer Gesamtheit, in einer Masse unentwirrbarer Details wahrgenommen hatten. Diese Fähigkeit, alles auf einmal wahrzunehmen, nannten wir Intensität. Jahrelang waren wir unfähig gewesen, die konstituierenden Teile dieser Gesamt-Erfahrungen zu analysieren; wir waren unfähig, diese Teile in eine Reihenfolge zu synthetisieren, die für den Intellekt verständlich gewesen wäre. Da wir einer solchen Synthese nicht fähig waren, konnten wir uns nicht erinnern.
Unsere Unfähigkeit, uns zu erinnern, war in Wirklichkeit eine Unfähigkeit, die Erinnerung an unsere Wahrnehmungen auf eine lineare Basis zu stellen. Wir konnten unsere Erfahrungen sozusagen nicht im Aufriss darstellen und sie in eine geordnete Sequenz arrangieren. Die Erfahrungen waren uns zugänglich, aber gleichzeitig gelang es uns nicht, sie hervorzuholen, denn sie waren hinter einer Mauer der Intensität verborgen.
Die Aufgabe des Erinnerns war also eigentlich die Aufgabe, unsere linke und rechte Seite zu vereinen, jene beiden separaten Formen der Wahrnehmung zu einem einheitlichen Ganzen zu versöhnen; es war die Aufgabe, die Ganzheit unseres eigenen Selbst zu konsolidieren - und zwar durch Anordnung der Intensität in einer linearen Sequenz.
Nun kam uns der Gedanke, daß die Aktivitäten, an denen teilgenommen zu haben wir uns erinnerten, möglicherweise nicht lange angedauert hatten - im Sinn einer mit der Uhr gemessenen Zeit. Aufgrund unserer Fähigkeit, mit Hilfe der Intensität wahrzunehmen, hatten wir vielleicht nur eine unterschwellige Empfindung von längeren Zeitabläufen gehabt.
La Gorda meinte, daß wir, wenn wir nur fähig wären, die Intensität in einer linearen Sequenz anzuordnen, ganz ehrlich glauben dürften, an die tausend Jahre gelebt zu haben.
Die praktische Maßnahme, die Don Juan ergriff, um uns bei unserer Aufgabe des Erinnerns zu helfen, bestand darin, daß er uns mit gewissen Leuten interagieren ließ, während wir uns in einem Zustand gesteigerter Bewußtheit befanden. Er war sorgsam darauf bedacht, uns diese Menschen nicht sehen zu lassen, während wir uns im Zustand normaler Bewußtheit befanden; auf diese Weise schuf er den geeigneten Hintergrund für das Erinnern.
Nachdem la Gorda und ich unser Erinnern vervollständigt hatten, gerieten wir in einen grotesken Zustand. Wir hatten ein detailliertes Wissen von zwischenmenschlichen Interaktionen, die wir gemeinsam mit Don Juan und seinen Genossen gehabt hatten. Es waren keine Erinnerungen, wie ich mich etwa an ein Ereignis aus meiner Kindheit erinnern würde, sondern mehr als lebhafte, Schritt für Schritt nachvollziehbare Erinnerungen an Ereignisse. Wir rekonstruierten Gespräche, die in unseren Ohren nachzuhallen schienen, als ob wir ihnen gerade lauschten. Beide meinten wir, daß es überflüssig sei, darüber spekulieren zu wollen, was mit uns geschah. Von unserem empirischen Selbst her betrachtet, fand das, woran wir uns erinnerten, jetzt statt. Dies war die Beschaffenheit unseres Erinnerns.
Irgendwann gelang es la Gorda und mir dann endlich, jene alten Fragen zu beantworten, die uns so sehr bedrängt hatten. Wir erinnerten uns daran, wer die Nagual-Frau war, welchen Platz sie in unserem Kreis eingenommen hatte, welche Rolle sie gespielt hatte. Wir folgerten, mehr als daß wir uns erinnerten, daß wir gleich lange Zeit mit Don Juan und Don Genaro zusammen im Zustand normaler Bewußtheit, und mit Don Juan und seinen anderen Gefährten im Zustand gesteigerter Bewußtheit verbracht hatten; wir vergewisserten uns jeder Nuance dieser Interaktionen, die uns durch die Intensität verschleiert gewesen waren.
Nach aufmerksamem Überdenken unserer Resultate wurde uns klar, daß wir die zwei Seiten unseres Selbst - wenigstens in
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