Die Kunst engagierter Gelassenheit
und unsere eigenen Vorstellungen und fixen Pläne nicht absolut zu setzen. Wenn wir vermeintliche Störungen als leisen Wink zu erkennen versuchen, kommen wir der Gelassenheit im Alltag sehr nahe.
Unterschiedliche und bedrohte Werte
»Was mir meine Gelassenheit raubt, kann ich recht klar sagen, wenn ich schaue, in welchen Situationen ich in den letzten 10 Jahren protestierende Briefe an Firmen oder Redaktionen geschrieben habe. In der Regel, wenn es um Fälle von Rassismus und von ausländerfeindlichen Handlungen geht.« (Mann, 55 Jahre)
»Ungelassen reagiere ich, wenn etwas gegen meinen Verstand geht – wenn ich etwas nicht verstehe!« (Politikerin und Kaderfrau, 55 Jahre)
Oft sind es konträre Meinungen in politischen, sozialen und religiösen Fragen, die uns auf die Palme bringen und uns die
Gelassenheit verunmöglichen. Andersdenkende besitzen und vertreten in der Regel eine andere ethische Grundhaltung. Menschen und Gruppen mit traditionellen, idealistischen, hedonistischen oder materialistischen Wertehaltungen verstehen sich gegenseitig oftmals nicht und reagieren ungelassen aufeinander.
Mich bringen vor allem Menschen auf die Palme, die eine unbekömmliche Mischung von Machtgehabe, Herzlosigkeit und sklavischem Gesetzesdenken an den Tag legen. Übertriebenes Pflichtgefühl und blinder Obrigkeitsglaube an der Stelle von gesundem Menschenverstand und Weitherzigkeit lässt mich wohl auch noch im hohen Alter völlig ungelassen reagieren.
Wo und wann müssen und können wir toleranter werden? Und wann wäre Toleranz fehl am Platz und lediglich Ausdruck von Gleichgültigkeit und Harmoniesucht?
Ungeduld
»Meine Gelassenheit verliere ich vor allem bei aggressiven, rücksichtslosen Autofahrern.« (Frau, 46 Jahre)
»Ungelassen bin ich beim Autofahren unter Zeitdruck, was leider oft der Fall ist.« (Mann, 38 Jahre)
Am Steuer mutieren die friedvollsten Menschen zu Hyänen und beginnen unflätig zu fluchen und zu gestikulieren. Drängeleien kennen wir nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch in Restaurants, Supermärkten, am Skilift oder Check-in-Schalter des Flughafens. Weil der Gelassenheitshemmer Ungeduld so stark verbreitet ist, erhält er später ein eigenes Kapitel.
Technisches Ausgeliefertsein
»Meine innere Ruhe verliere ich am deutlichsten, wenn wieder mal mit dem E-Mail oder dem Computer was schiefläuft.« (Frau, 45 Jahre)
In Paris lebte ich in den 90-er Jahren während des Studiums in einem Haus mit 30 Jesuiten aus aller Welt. Wenn jeweils einer die Waschmaschine einschaltete, während in der Küche der Kochherd eingeschaltet war, fiel der Strom im ganzen Haus aus. Und ich durfte erfahren, dass der Ärger über das plötzliche Aussteigen des Computers interkultureller Art ist. Franzosen und Schweizer fluchen bei Computer-Abstürzen nicht weniger laut als Kongolesen, Haitianer, Polen, Koreaner und Ägypter.
Fehlende Sinnerfahrung
Wenn wir über längere Zeit das Gefühl haben, nur zu funktionieren, aber nicht wirklich erfüllt zu leben, können unsere Seele, unser Geist und Herz leicht aus der Ruhe kommen. Menschen streben nach Sinn. Und je älter wir werden und je weiter oben wir uns auf der Maslow’schen Pyramide der erfüllten Bedürfnisse befinden, umso mehr stellt sich die Frage nach dem Sinn in unserem Tun, Haben und Sein. Manchmal müssen wir eine gewisse Durststrecke und Leere aushalten, weil wir uns aus unseren Verpflichtungen nicht so einfach davonstehlen können. Wer sich die fehlende Sinnerfahrung aber längere Zeit nicht eingesteht und sich der Sinnsuche verweigert, wird früher oder später deutliche Negativsignale vom Körper erhalten.
Alter
»Ungelassen bin ich in meiner Erfahrung, nicht mehr zum aktiven Teil der Gesellschaft zu gehören. Das Aufgeben einer prominenten Position mit vielen Privilegien und Vorteilen ist schwer. Es beschäftigt mich, nicht mehr gefragt zu sein. Der ziemlich rapide Verlust physischer Anziehungskraft, die womöglich mit der Aufgabe einer prominenten Position zusammenhängt, erfordert eine innere Neuausrichtung, um die Gelassenheit nicht nur zu bewahren, sondern – dem Alter entsprechend – auszubauen.« (Mann, 70 Jahre)
Von vielen Menschen, die sich jahrzehntelang stark über den Beruf definiert haben, weiß ich um den Schock der Pensionierung. Manche reagieren schon zwei bis drei Jahre im Vorfeld des großen Übergangs sehr besorgt und ungelassen. Ich kenne aber auch ältere Menschen, die im Alter zu einer großen Gelassenheit finden, weil sie
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