Die Kunst engagierter Gelassenheit
fromme Seelen, Armut, Ungerechtigkeit und Gewalt seien gottgewollt:
»Ich ärgere mich über die falsche Gelassenheit im indischen Kastensystem. Dieser institutionalisierte Rassismus ist fatalistisch und bezeichnet Leiden und Armut als Bestimmung, als Karma.« (Mann, 47 Jahre)
Die spirituelle Überhöhung von Fatalismus und Gleichgültigkeit oder gar einer stillschweigenden Unterstützung ungerechter Regeln, Gesetze und Systeme pervertiert die Religion zu einer lebensfeindlichen und menschenverachtenden Ideologie.
In gewissen Situationen kann die Ruhe in Geist, Herz und Seele zwar an Unerschütterlichkeit grenzen, ist aber nie unverletzlich oder gar immun gegen Leid und Schmerz. Der gelassene Mensch steht nie gönnerhaft über den Dingen und Leiden, sondern lebt eine wache Präsenz und steht verwundbar mitten im Leben und in der Welt. Manchmal begegnet uns die falsche Gelassenheit auch unter dem Deckmantel grenzenloser Toleranz. Doch hinter Sätzen wie »mach, was du willst« versteckt sich in Wahrheit Gleichgültigkeit und Desinteresse. Der US-amerikanische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende
Elie Wiesel schrieb: »Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Und das Gegenteil von Leben ist nicht Tod, sondern Gefühllosigkeit.« Im Buddhismus ist die Gleichgültigkeit der Gegenpol, der »nahe Feind« der Gelassenheit. Eine 41-jährige buddhistische Zen-Lehrerin schreibt:
»Gleichgültigkeit ist ein Geisteszustand, der oberflächlich betrachtet mit Gelassenheit verwechselt werden könnte. Das zentrale Merkmal von Gleichgültigkeit ist, dass wir nur deshalb so ›unberührt und gelassen‹ scheinen, weil wir nicht im Kontakt mit der Realität des Lebens sind. Ich sehe bei mir, dass ich dann gleichgültig werde, wenn der Herzgeist zu klein und begrenzt ist, um eine Situation des Leidens ›halten‹ zu können und dadurch mit Ablehnung, Angst und Ekel oder mit Schuldzuweisungen reagiert. Gleichgültigkeit schützt mein kleines Ich. Besonders schwierig sind Situationen, in denen ich vollkommen machtlos zuschauen muss, wie Menschen Leiden produzieren (zum Beispiel Kindsmisshandlung). Nach einer Phase des Mich-Auflehnens gegen diese Tatsache gibt es einen Punkt, wo der Geist gleichgültig zu werden droht (›sollen sie doch so weitermachen, die werden schon sehen‹), weil er das Leiden nicht mehr spüren will. Die Herausforderung ist, auch im Leiden, in der Ohnmacht, präsent und wach zu bleiben, nicht einfach wegzuschauen.«
Nur wer sich auf die Welt mit ihrer Schönheit und ihrem Leiden einlässt und sich für sie interessiert im Sinn des lateinischen »inter-esse« (»dazwischen-sein«), kann echt gelassen – und engagiert – sein. Der jüdisch-buddhistische Zen-Meister
und Sozial-Aktivist Bernard Tetsugen Glassman und auch der vietnamesische buddhistische Mönch und spirituelle Bestseller-Autor Thich Nhat Hanh befassen sich intensiv mit dem »Inter-Esse«, dem Dazwischen-Sein, dem engagierten und zugleich gelassenen Sein und Wirken mitten in der Welt. Verena Kast hat dem Inter-Esse ein ganzes Buch gewidmet. Thich Nhat Hanh hat sogar eine Gemeinschaft mit dem Namen »Interbeing« gegründet. Die dahinter liegende spirituelle Erfahrung und geistige Einsicht der modernen Physik besteht darin, dass alles mit allem wechselseitig verbunden ist und zusammenhängt. Unsere Welt und das gesamte Universum sind eins, unteilbar, verbunden, vernetzt. Die Trennungen, Differenzierungen, Abspaltungen sowie Gut-Böse- und Freund-Feind-Schemen, die wir in unserem mental, dualistisch und bipolar geschulten und geprägten Hirn immer wieder kreieren, verhindern letztlich diese Erfahrung des Einsseins, die über den anthropozentrischen und egozentrischen Blick hinausweist und die Grundlage zur engagierten Gelassenheit bildet.
Falsche Gelassenheit im Sinn einer Unbekümmertheit und Unberührbarkeit mag mit Verdrängungsstrategien vielleicht bei manchen Zeitgenossen eine Weile lang funktionieren, nicht aber langfristig. In diesem Kapitel geht es nicht nur darum, uns zu prüfen, wo wir eine falsche Gelassenheit leben, sondern uns auch zu fragen, wo wir bewusst ungelassen sein wollen. Denn in manchen Fällen wäre Gelassensein unverantwortlich. Meine Bekannten nannten eine Fülle von Situationen, wo die Seelenruhe Ausdruck einer falschen Gelassenheit wäre:
»Ich bin dann nicht gelassen und möchte es auch gar nicht sein, wenn ich mich ärgere oder mit anderen Menschen trauere.« (Mann, 36 Jahre)
»In der
Weitere Kostenlose Bücher