Die Kunst engagierter Gelassenheit
Migration, Überschwemmungen, technische Veränderungen.
Selbstverständlich können wir versuchen, uns gegen all das Unerwünschte und Ungeplante in unserem Leben und in der Welt zu wehren. Meistens verschwenden wir dadurch aber sinnlos Energie und berauben uns der eigenen Zufriedenheit. Technisch können wir heute unser Leben von der Zeugung bis zum Tod manipulieren. In der hoch technisierten Welt ist die Grenze zwischen unvermeidbaren und veränderbaren Situationen unscharf geworden. Menschliches Leben können wir
künstlich erzeugen, verlängern und verkürzen. Wenn wir mit unserem Körper nicht zufrieden sind, können wir sogar auf Kosten der Krankenversicherung Augenlider und Brüste straffen oder ein Magenband einpflanzen lassen. Das Geschlecht können wir auch operativ umwandeln lassen. Die Muttersprache der Eltern bedeutet auch nicht mehr zwingend, dass diese tatsächlich unsere Hauptsprache wird. Partner, Arbeitsstellen und Wohnorte können wir heute auch leichter ändern als früher, weil die Verbindung von Haus und Hof nicht mehr besteht und in der Regel beide Partner berufstätig und somit finanziell unabhängig sind. Und dem schlechten Wetter können wir in den Ferien mit dem Flugzeug leicht aus dem Weg gehen. Bei der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking stand sogar eine Flotte von Kampfjets bereit für den Fall, dass es bei der Zeremonie geregnet hätte. Die Flugzeuge hätten westlich der Hauptstadt die vollen Regenwolken abgeschossen, um das Feuerwerkspektakel im Sportstadion nicht zu gefährden. Unvermeidlich bleibt heute eigentlich nur noch der eigene Tod, selbst wenn wir den Zeitpunkt rechtlich wie medizinisch nach vorn und hinten verschieben können.
In unserem westlichen Kulturkreis tun wir uns vor allem mit dem unvermeidbaren Älterwerden schwer und huldigen einem grenzenlosen Jugendkult. Es wirkt jeweils peinlich, wenn sich eine 60-jährige Frau wie ihre Tochter anzieht, wenn ein 70-jähriger Mann mit dem Kick-board auf dem Gehsteig vorbeiflitzt oder wenn ein mehrfach gelifteter Promi in der TV-Talk-Show alles »geil«, »cool« und »mega« findet. Es ist zu hoffen, dass die Würde des Älterwerdens sowie die Lust und Freude am Alter durch Bücher und Kurse in unserer
Zivilisation möglichst rasch zunehmen, da sich bald einmal die Hälfte unserer Bevölkerung im Seniorenalter befinden wird.
Wegen unseres oft totalen Machbarkeitsglaubens wäre eine Orientierung an den griechischen Philosophen und Dichtern hilfreich. Der stoische Philosoph Epiktet (50 – 138) vertrat die Forderung, die Dinge zu akzeptieren wie sie sind. Das klingt in manchen Ohren vielleicht nach falscher Gelassenheit im Sinn des passiven Fatalismus und löst bei uns innere Widerstände aus. Es geht der Stoa aber vielmehr darum, unsere innere Einstellung zum Leben und zum Schicksal zu hinterfragen. Unsere Denkmuster sind so programmiert, dass wir Gesundheit automatisch für besser und wertvoller halten als Krankheit, Reichtum erstrebenswerter als Armut, Schönheit attraktiver als Makel, Erfolg ethisch höher als Versagen. Die stoische Haltung plädiert für inneren Gleichmut, stellt darum unsere Werte-Programmierung in Frage und zieht das Leben dem Tode gerade nicht vor, die Gesundheit nicht der Krankheit, die Lust nicht dem Schmerz, die Schönheit nicht der Hässlichkeit, die Stärke nicht der Schwäche, den Reichtum nicht der Armut, den Erfolg nicht dem Versagen und die Ehre nicht der Schande.
Das Beste aus allem machen
In der stoischen Philosophie stehen nicht a priori gewisse Situationen und Zustände ethisch höher als andere. Vielmehr geht es in der Stoa darum, dass wir im Leben in und aus allen Situationen das Beste machen. Stoische Gelassenheit ist darum gerade kein passives Hinnehmen des Schicksals, sondern das
aktive Ringen um die Akzeptanz der Realität bei gleichzeitiger Suche nach einem möglichst sinnvollen Umgang in und mit der jeweiligen Situation. [Ref 10]
Immer mehr Menschen pendeln heute zu ihrer Arbeitsstelle und sind stundenlang unterwegs. »to bear« bedeutet in dieser Situation, dass wir nicht monate- und jahrelang über diese Situation jammern, sondern das Beste daraus machen. Ich kenne Menschen, die mit dem Auto jeden Morgen und jeden Abend eine Stunde im Stau stehen. Sie haben im Auto eine ganze Sammlung von Hör-CDs mit ihrer Lieblingsliteratur angelegt und nutzen diese Zeit bewusst zum Abschalten und zum geistigen Auftanken. Einige haben im Morgen-Stau richtige
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