Die Kunst engagierter Gelassenheit
ganz auf die Zukunft gerichtet sind, während sie sich in Europa mehr an den wunderschönen Bauwerken und Institutionen aus den letzten Jahrhunderten orientieren.« (Mann, 53 Jahre)
»Zukunftsängste in Bezug auf die finanzielle Existenz und Unabhängigkeit waren groß und haben mein Weiterkommen lange behindert. « (Frau, 39 Jahre)
Manche Philosophinnen und Dichter, Mystikerinnen und Heilige bezeugen, dass erfülltes Leben darin besteht, ganz im Hier und Jetzt zu leben. Das schließt nicht aus, dass wir geschichtlich denken und unsere Zukunft planen. Auch über das Leben im Hier und Jetzt stammt einer der provokativsten Texte der Weltliteratur aus den neutestamentlichen Evangelien, genauer aus dem 10. Kapitel von Lukas. Jesus kehrte bei seinen Freundinnen Maria und Marta in Bethanien nahe Jerusalem ein. Maria setzte sich zu Jesus und hörte Jesu Worten zu, während Marta in der Küche herumlief und das Essen zubereitete. Eigentlich hätte Marta auch bei Jesus sitzen wollen und beklagte sich deshalb bei Jesus über ihre Schwester: »Kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!« Jesus aber reagierte ungewohnt und provokativ: »Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.« In dieser Szene saß Maria »nur« da und hörte zu. In einer anderen Szene war sie es, die den Haushalt besorgte, Jesus wusch und salbte. Was sie tat, tat sie ganz – nach der Devise von Teresa von Ávila: »age quod agis«. Marta hatte wohl wie manche von uns heute nicht den Mut, ihre Bedürfnisse klar zu formulieren und dann mit Herzblut das zu tun, wofür sie sich entschieden hat. Jesus wollte nicht plump sagen, dass Zuhören in jedem Fall besser sei als Haushalten. Ihm ging es vielmehr darum, dass die Menschen in der jeweiligen Situation das je Beste und Wesentliche mit ungeteilter Leidenschaft und Präsenz taten. Die Reaktion Jesu war aber auch darum provozierend, weil er Marta aufzeigte, dass sie sich nicht um
Maria kümmern sollte und darum, was diese zu tun und wie diese zu sein habe, sondern dass sie selbst möglichst authentisch leben soll.
Diese Geschichte macht deutlich, dass Gelassensein weitgehend darin besteht, in der jeweiligen Situation gut zu spüren, was gerade wichtig und wesentlich ist, und dies mit ungeteilter Aufmerksamkeit und Herzblut zu tun.
■ Wie viele meiner Sorgen und Gedanken beziehen sich auf die Gegenwart und wie viele auf Vergangenheit und Zukunft?
■ Was hilft mir, ganz im Hier und Jetzt zu sein?
Annehmen, verändern, beenden?
Der Narr tut, was er nicht lassen kann.
Der Weise lässt, was er nicht tun kann.
Chinesisches Sprichwort
Ob Pickel auf der Nase oder Polster an den Hüften, Überstunden im Büro oder Kratzer am Auto, nörgelnde Partnerin oder unordentlicher Gatte, Schlagzeug oder Trompete der Nachbarn, Unkraut im Garten oder Regengüsse aus dem Wolkenhimmel, religiöse Extremisten oder schmelzende Eisberge: In unserem Leben und auf dem Planeten stört, nervt und ängstigt uns vieles. Obwohl wir offenbar in der besten aller Welten
leben, gibt es sowohl schicksalshafte als auch vermeidbare Situationen, die nicht nach unseren Wünschen und Plänen sind. Viele Streiche des Lebens, politische Ereignisse und gesellschaftliche Trends empfinden wir als unangenehm oder gar bedrohlich. Von zahlreichen Menschen und Situationen lassen wir uns tagtäglich die gute Laune und den inneren Frieden verderben – oder eben die Haltung der Gelassenheit.
In den folgenden zwei Kapiteln untersuchen wir, bei welchen Unannehmlichkeiten und Leiden im Leben unsere gelassene Einstellung, unser mutiger Widerstand, die verändernde Gestaltungskraft oder die radikale Trennung die richtige Lösung ist. Dabei stoßen wir wiederholt auf die Frage, ob und wieweit es heute überhaupt noch notwendig ist und wir fähig sind, Veränderbares und Unveränderbares zu unterscheiden. Denn wir leben in einer Zeit, wo vieles, was während Jahrtausenden in Stein gemeißelt schien, durch Bewusstseinsentwicklungen und technische Fortschritte veränderbar geworden und einem menschlichen Allmachtsdenken gewichen ist.
Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet das sogenannte Gebet der Gelassenheit. Es wird dem römischen Philosophen Boëthius (480 – 526) zugeschrieben. Weiter ausformuliert wurde es während des Zweiten Weltkriegs von dem deutsch-amerikanischen
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