Die Kunst, frei zu sein
der Vergangenheit hatte je die Macht, den Einfluss und das Vermögen von Terry Leahy, dem Grafen von Tesco. Er verdient 10000 Pfund pro Tag, 1500 Pfund pro Stunde, und gebietet über mehr als 250000 Vasallen. Das ist fast ein Prozent der britischen Erwerbsbevölkerung. Sie alle sind Tesco in Knechtschaft unterworfen, und die meisten verdienen weniger im Jahr als Leahy an einem Tag. Es verblüfft mich, dass wir Schlange stehen, um dieser Bande von Mega-Aktionären zu dienen. Die Beschäftigung in einer Supermarktkette ist bar jeder Eleganz, jeder Anmut, jeder Gastfreundschaft. Kann der niedrigste Schänkenangestellte je so eingeschränkt gewesen sein wie ein Regalstapler bei Tesco? Die Supermärkte entziehen dem Leben die Romantik und das Temperament.
Wir verunglimpfen das feudale Arbeitssystem und schätzen uns heute glücklich, doch eine nüchterne Betrachtung des Gutsherrnsystems ergibt, dass die angeblich analphabetischen leibeigenen Bauern mehr Freiheit und größere Reichtümer besaßen sowie unabhängiger waren als der durchschnittliche heutige Lohnsklave. Wie oben ausgeführt, schuldete John Audrey aus Foxton dem Gut pro Woche nur einen einzigen Arbeitstag. Die übrige Zeit gehörte ihm selbst. Sein proportionales Einkommen entsprach mindestens 30000 Pfund nach heutigen Begriffen. Nach Lage der Dinge verdiente er für einen Arbeitstag pro Woche den drei- bis vierfachen Betrag seiner Jahrespacht. Er hatte 18 Morgen Land und ein Haus, und zudem dürfte er mehrere Handwerke beherrscht haben, denn jedes Dorf benötigte einen Schuhmacher, Maurer, Tischler und Schmied. Nun vergleiche man ein solches Leben mit dem eintönigen Los eines Call-Center-Angestellten, der für fünf Arbeitstage pro Woche jährlich 12000 Pfund verdient. Der Call-Center-Angestellte muss fünfmal so schwer für weniger als die Hälfte des Lohnes arbeiten.
Was die weit verbreitete Schicht der Hauseigentümer angeht, die, wie es heißt, einen der großen wirtschaftlichen Fortschritte der jüngeren Vergangenheit verkörpert, so haben wir es mit einem weiteren Schwindel zu tun. Wenn der Bausparkasse neunzig Prozent gehören, wie kannst du dann als Eigentümer des Hauses bezeichnet werden? Vielmehr wirst du durch zwei Instanzen versklavt: durch den Arbeitgeber und durch die Bausparkasse. Wenn du dich mit deinen Zahlungen verspätest, nimmt dir die Bausparkasse dein Haus wieder ab. Deshalb setzt du dich bei der Arbeit allen denkbaren Erniedrigungen aus, denn du hast Angst, deine Stelle zu verlieren. Diese Brutalität und Sklaverei übertreffen alles, was im mittelalterlichen System üblich war.
Wenn jemand daran denkt, seine Stelle aufzugeben, dann kann ich es ihm nur wärmstens empfehlen. Ich finde, es ist viel leichter, ohne eine Anstellung zu leben. Zum einen hat man viel weniger Arbeit. Eine Arbeitsstunde zu Hause entspricht zwei Stunden im unwirtschaftlichen Büro oder in der Fabrik. In solchen Institutionen vervollkommnen wir die Kunst, die kleinstmögliche Menge an Arbeit in der längstmöglichen Zeit zu erledigen. Eine gewaltige Stundenzahl wird verschwendet. Zu Hause kehren wir den Prozess um: Wir machen so viel Arbeit wie möglich in der geringstmöglichen Zeit. Damit werden vier Arbeitsstunden zu Hause zu einem ganzen Arbeitstag im Büro. Andererseits hörst du jedoch nie auf zu arbeiten, wenn du deinen Beruf und dein Leben vereinst. Oder du arbeitest nie – das musst du selbst entscheiden. Einen Artikel zu schreiben ist für mich nicht wichtiger oder unwichtiger, als eine Möhre auszugraben. Beides ist Teil des Lebens; alles ist gleichwertig, das Gute und das Schlechte, das Geldverdienen und das Nicht-Geldverdienen.
Zum anderen stellst du fest, dass du weniger ausgibst, wenn du keine Stelle hast. Die Kosten für das Pendeln zur Arbeit sind verschwunden, ebenso wie die für die endlosen Riesenkaffees. Du bist jetzt kein Sklave von Starbucks mehr! Endlich frei! Ebenso sparst du die Mittags-Sandwiches und die Drinks nach Feierabend mit Kollegen. Du brauchst auch nicht mehr so viele Kleidungsstücke. Deine Kosten sinken. Der Heimarbeiter kann mühelos 100 Pfund pro Woche sparen. Das allein verringert den Arbeitsdruck.
Ein Einwand, den ich höre – eine weitere vom Geist geschmiedete Fessel –, ist folgender: »Ich hätte nicht die Selbstdisziplin, freiberuflich zu arbeiten.« Auch das ist ein Mythos. Wir werden in dem Glauben bestärkt, wir seien nutzlos, unfähig, auf uns selbst aufzupassen, weshalb wir einen Arbeitgeber
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