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Die Kunst, frei zu sein

Die Kunst, frei zu sein

Titel: Die Kunst, frei zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hodgkinson
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und Weiterbildung wie die bürgerlichen Schichten, genauso wenig wie die Angehörigen der Aristokratie. Die Aristos stehen ohnehin ganz oben und können nicht weiter aufsteigen. Paradoxerweise verleiht ihnen diese Tatsache eine Bescheidenheit, die den erfolgreichen Meritokraten der Mittelschicht fehlt. Wer von höherem Stande ist, dem fehlen die Selbstzufriedenheit und der Stolz des Selfmademan. Im Grunde halten es die meisten Menschen für wenig zweckmäßig, nach Hypotheken und Sicherheit zu streben. Aber die heutige Mittelschicht als Erbin der puritanischen Tradition des Geldverdienens und der Selbstverleugnung hat die »Karriere« zum Zentrum ihres täglichen Ringens erhoben. Und sie versucht heute mehr denn je, allen anderen ihr Karriere-Ethos aufzuzwingen. Das Ganze nennt sich dann »Regierung«.
    Die Idee der Karriere beruht darauf, dass sie einem Pfad nach oben zu einem Punkt in weiter Ferne folgt. Es ist die Suche nach Vervollkommnung und die säkulare Version des protestantischen Strebens nach Erlösung. Karriere ist ein puritanischer Begriff, eine Art einsamer Pilgerfahrt. Eine Reise zur seligen Ewigkeit. Regierungen werben mit der Idee der »Chancengleichheit für alle, das Beste aus sich zu machen«, wobei sie in Wirklichkeit »Chancengleichheit für jeden Drecksack« meinen, »der seine Freunde und Kollegen verpfeift, um dem Götzen des Karriereaufstiegs zu huldigen«. Karriere ist angeblich mehr als bloß ein Job: Sie definiert dich, zieht deine Grenzen und soll dir die kreative und kompetitive Erfüllung bieten. Durch sie verdienst du nicht einfach nur dein Brot, sondern sie ist dein Leben. Aber Beförderungen haben meist das Überleben des Tüchtigsten zum Prinzip. Deine Beförderung hängt also davon ab, dass jemand anders nicht aufrückt oder dass er sogar gefeuert wird. Das Konkurrenzprinzip bedeutet, dass dein Erfolg mit dem Scheitern eines Rivalen erkauft wird. Aus diesem Grund sind Großunternehmen Brutstätten der Machenschaften und der Verschwörung. Du fängst mit einem Praktikum an, erreichst eine Stufe, auf der du von Idioten herumkommandiert wirst, du wirst selbst zum Idioten und entwickelst dich schließlich, wenn alles gut geht, zu dem Oberidioten, der andere herumkommandiert. »Doch heute wird ersichtlich, dass die Erpressung für eine bessere Zukunft gelehrig der Erpressung für das Heil im Jenseits nachfolgt. In beiden Fällen ist es immer die Gegenwart, die unter den Schlägen der Unterdrückung leidet«, schreibt Vaneigem.
    Unterdessen steigt dein Gehalt, du kaufst dir größere Autos und Häuser und förderst dadurch die Karriere von anderen. Karriere spiegelt die Dynamik anderer moderner Mythen exakt wider. Sie ist ein gieriges Ungeheuer, nie zufrieden, immer mehr begehrend. Und sie ermuntert uns zu einer, wie ich meine, unnatürlichen Spezialisierung. Durch den Konkurrenzdruck werden wir auf einem winzigen Gebiet sehr gut und entziehen uns allen anderen. Das nennt man Professionalismus, aber es sollte zutreffender als »Untauglichkeit« bezeichnet werden. Vor kurzem fragte ich meinen Zahnarzt, ob er daran denke, bald in den Ruhestand zu treten. Er verneinte, denn er wisse nicht, was er sonst tun könne. »Das Problem des Zahnarztberufs besteht darin, dass man am Ende zu nichts anderem mehr fähig ist.« Und wenn du zu nichts anderem mehr fähig bist, wirst du davon abhängig, dass andere deine Bedürfnisse erfüllen: Kultur wird von Experten geschaffen, Musik von Bands, die für Plattengesellschaften arbeiten, die Erziehung liegt in den Händen speziell ausgebildeter Lehrer, und die Medizin ist Sache fachkundiger Ärzte. Wir sind sozusagen behindert. Bald wird es schwierig sein, ein Regal ohne einen entsprechenden akademischen Abschluss anzubringen.
    In den Siebzigern analysierte Ivan Illich die Gefahren einer derartigen Überspezialisierung. In Abhandlungen wie »Schöpferische Arbeitslosigkeit« stellte er die Berufe als Ursache von Behinderungen dar. Jedes bisschen Macht, das wir einem Experten überlassen, bedeute ein bisschen weniger Macht für uns selbst:
    Ich schlage vor, dass wir die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Epoche der entmündigenden Expertenherrschaft nennen. Diese Bezeichnung wähle ich, weil sie denjenigen, der sie gebraucht, auf ein Engagement festlegt. Sie verweist ferner auf den antisozialen Charakter der Funktionen von Leuten, deren Wert für die Gesellschaft kaum je angezweifelt wird – Erzieher, Ärzte, Sozialarbeiter, Naturwissenschaftler.

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