Die Kunst, frei zu sein
Verschwendung von Zeit und Energie. Wenn sämtliche Taten nichtig sind, wenn alles Eitelkeit, das Leben absurd und die Welt ein großes Nichts ist, warum sollen wir dann nicht faulenzen oder tun, was wir wollen? Die Karriere bemächtigt sich einer potenziellen Quelle der Freude und macht sie zu einer Pflicht, fast zu einer Buße. Möchtest du wirklich, dass auf deinem Grabstein steht: »Er hat sein ganzes Leben lang gelitten«?
In der unschönen Sprache der Gegenwart könnte ich Multitasking als eine der Lösungen nennen. Trink und rauche gleichzeitig! Aber im Ernst, du könntest eine Berufung in den Mittelpunkt deines Arbeitslebens stellen. In meinem Fall ist diese Berufung – oder Begabung – der Journalismus. Seit meinem achten Lebensjahr schreibe ich Artikel und gebe Zeitschriften heraus. Aber diese zentrale Berufung zwingt mich nicht, nur einer einzigen Tätigkeit nachzugehen und andere Aspekte menschlichen Wirkens zu vernachlässigen. Mir macht es ebenfalls Spaß, Gemüse anzubauen, Stroh auf der Erde auszubreiten, Hühner zu halten, Gegenstände aus Holz herzustellen, mit meinem Luftgewehr auf Bohnendosen zu schießen, mit meinen Kindern Pokémon zu spielen oder auf der Ukulele zu klimpern. Diese Dinge tue ich nicht für Geld oder die Karriere, sondern um ihrer selbst willen. Wie ich festgestellt habe, genügen drei Stunden bezahlter Arbeit pro Tag, um über die Runden zu kommen. Die übrige Zeit widme ich unbezahlter Arbeit oder unbezahltem Spiel.
Um Selbstgenügsamkeit und Kreativität in unser Leben zurückzuholen, könnten wir irgendein Geschäft von zu Hause aus betreiben, eine Heimindustrie, eine schöpferische Produktion, für die wir so viel oder so wenig Zeit und Energie aufwenden, wie es uns beliebt und wie es zu unserer jeweiligen Lebensphase passt. »Lerne ein Handwerk«, empfehle ich jungen Schriftstellern, die mit dem Idler Kontakt aufnehmen: Tischlern oder Schmieden oder Gartenbau oder Polstern. Solche Beschäftigungen lassen sich sehr gut mit dem Geistesleben vereinbaren. Es ist vernünftig, den unterdrückenden Lehrsatz »Viele Handwerke verderben den Meister« als bourgeoise Propaganda zurückzuweisen. Nein, du kannst zahlreiche Dinge tun: Holz hacken und Wasser tragen und Gedichte schreiben. Du kannst einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb mit Software-Design verbinden. Ein Idler -Leser spielt klassische Tuba und ist außerdem ausgebildeter Stuckateur. Er liebt beide Metiers, und beide verschaffen ihm ein Einkommen. Warum soll man sich auf einen einzigen kleinen Bereich beschränken?
Eine wenig hilfreiche Lösung, welche die moderne Gesellschaft zu bieten hat, ist die »Work-Life-Balance«, die Arbeit und Freizeit in ein ausgewogenes Verhältnis bringen soll. O Graus! Ganz abgesehen davon, dass es sich um eine hässliche Formulierung handelt, stimmt mit dem ganzen Konzept etwas nicht, denn es besagt, dass Arbeit schlecht und Freizeit gut sei. Besser wäre es doch, die Arbeit in ein kreatives Vergnügen zu verwandeln. Dann brauchte man sich keine Sorgen um die Ausgewogenheit zwischen Gutem und Schlechtem zu machen: Alles wäre gut. Die Utopie der Müßiggänger zielt nicht darauf ab, Seite an Seite mit den Gewerkschaften die unerfreuliche Arbeit einfach zu verringern, sondern vielmehr darauf, Arbeit und Freizeit zu einem erfüllenden Ganzen zusammenzufügen.
Karrieren gestatten uns nicht, vollauf wir selbst zu sein, denn ihr Erfolgsmaßstab sind nicht Spaß an der Arbeit und Kreativität, sondern Geld und Status. Ein Beruf dagegen – im Sinne von Berufung – ist eine Aufgabe, mit deren Erledigung du deinen Lebensunterhalt verdienst und die dir gleichzeitig Spaß macht. Wie erwähnt, ist meine Berufung der Journalismus, also Kommunikation. Eric Gill fand seine Berufung als Steinmetz, Blake als Graveur, John Lennon als Songschreiber und so weiter. Wenn du diese Aufgabe in den Mittelpunkt deines Lebens stellst, bedeutet das nicht, dass du nichts anderes tun kannst. Ein Steinmetz könnte nebenbei durchaus Gedichte schreiben, das Haus säubern, Objekte aus Holz herstellen oder ein Gemüsebeet jäten. Aber das Bearbeiten von Steinen bildet das Zentrum seines Arbeitslebens und verschafft ihm seinen Unterhalt.
Wir haben die Pflicht, in unser Herz zu blicken und unsere Berufung, unsere Begabung, zu finden. Sobald wir das getan haben, werden wir feststellen, dass sich andere Teile unseres Lebens auf ganz natürliche Weise daraus ergeben. Wenn wir den Beruf – und nicht das Geldverdienen um
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