Die Kunst, frei zu sein
seines Handwerks langweilen, da man nicht den ganzen Tag damit verbringt, sondern daneben zahlreiche andere Arbeiten verrichtet. Diese Teilspezialisierung würde wenigstens eine gewisse Muße ermöglichen – wahrscheinlich mehr, als der städtische Lohnsklave erhält, nachdem er die Strecke zu und von seiner Fabrik oder seinem Büro zurückgelegt hat.
Genau das ist meine Hoffnung für meinen eigenen Wohnort. Wenn die fünf Häuser in unserer Siedlung allmählich zum Verkauf angeboten werden, kann ich dann meine Freunde überreden, sie zu erwerben und hierherzuziehen? Wir alle würden eigene Gemüsebeete besitzen, manche könnten Hühner, andere Schweine und noch andere Ziegen züchten. Man braucht Freunde und Nachbarn, um so etwas zu realisieren. Es allein zu versuchen ist zu schwierig. Wir könnten Erzeugnisse austauschen und einander in Ruhe lassen, wenn uns der Sinn danach steht.
Im Idealfall bringt man ein Element der Stadt mit aufs Land. Einige empfinden Städte als befreiend. Im späten zwölften Jahrhundert schrieb ein Mönch namens Richard von Devizes missbilligend über die Ausschweifungen von London: »Niemand wohnt dort, ohne irgendeinem Verbrechen anheim zu fallen … die Zahl der Schmarotzer ist unendlich. Schauspieler, Gaukler, glatthäutige Burschen, Mauren, Schmeichler, hübsche Jungen, weibische Männer, Päderasten, Gesangs- und Tanzmädchen, Quacksalber, Bauchtänzerinnen, Zauberinnen, Erpresser, Nachtwanderer, Magier, Mimen, Bettler, Possenreißer: dieses Volk füllt sämtliche Häuser.« Es klingt großartig, fast so wie die Dean Street heutzutage an einem Donnerstagabend. – Mehr noch, es klingt genau so, weshalb ich meine Nächte dort draußen zu schätzen weiß.
Ich bin in London aufgewachsen, in London zur Schule gegangen und habe die ersten zwölf Jahre meines Arbeitslebens in London zusammen mit den Nachtwanderern, Bettlern und Possenreißern verbracht, und das machte mir großen Spaß. Erst spät merkte ich, dass ich in meinem Verhalten eingeschränkt wurde. Die jeweilige Sicht der Stadt beruht vermutlich darauf, ob man das kommerzielle Leben als befreiend oder einengend empfindet. Im Gegensatz zum entsetzten Richard von Devizes meinte einer seiner Zeitgenossen beifällig: »Die Londoner City verbreitet ihren Ruhm weiter, schickt ihren Reichtum und ihre Waren in fernere Gegenden und trägt den Kopf höher als alle anderen … Die Bürger von London sind wegen ihrer erlesenen Sitten, ihrer Gewandung und ihrer Tafel bekannter als die aller übrigen Städte.« Es ist interessant, welche Prioritäten im Mittelalter galten: Feine Manieren, elegante Kleidung und gute Speisen stehen ganz oben.
Trotz des unleugbaren Reizes der Zauberinnen und Bauchtänzerinnen – und trotz des Reichtums – ließ ich mich irgendwann vom Landleben verlocken. Ungeachtet der unvermeidlichen Schwierigkeiten und des schlechten Wetters und aller übrigen Probleme stellte ich fest, dass wir plötzlich über Zeit und Raum verfügten. Außerdem kann man auf dem Lande von weniger Geld leben, und das bedeutet weniger Arbeit. Unzweifelhaft ist meine Familie nun nicht mehr so geldorientiert wie früher. Die Stadt scheint einem die Scheine aus der Tasche zu saugen, wenn man durch ihre verführerischen Straßen geht. Vermutlich ist es leichter, auf dem Land tugendhaft zu sein, da es dort, wie Oscar Wilde schrieb, keine Versuchungen gibt.
Typische Stadtmenschen beklagen sich über die Stille auf dem Lande. Sie vermissen die Sirenen. Auch gefällt es ihnen nicht, dass auf dem Land jeder über deine Schritte Bescheid weiß. In der Stadt kann man seine Privatsphäre und seine Anonymität pflegen. Andererseits ist es dort viel leichter, Gruppen gleichgesinnter Individuen zu finden. Die Arts-and-Crafts-Bewegung imVereinigten Königreich hatte, obwohl ihre Mitglieder das Landleben liebten, starke Bande zu London. William Morris zum Beispiel verbrachte dort viel Zeit in geschäftlichen Angelegenheiten.
Es ist möglich, beides zu tun. Man kann einen gesunden Dialog zwischen Land und Stadt pflegen, indem man auf dem Lande reflektiert und dann in die Stadt zurückkehrt, um seine Geschäfte zu tätigen. Man braucht die Stadt, um seine Waren zu verkaufen, seien es Schriften oder Skulpturen oder Karotten. Wie der heilige Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie schreibt: »Beide Lebensformen sind legitim und lobenswert – nämlich dass sich ein Mensch aus der Gesellschaft anderer zurückzieht und Enthaltung übt oder dass er
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