Die Kunst, frei zu sein
tausend Sklaven ihren Teil leisteten, den ihnen die Fantasie eines Einzigen anwies, sondern die ganze Stadt trug dazu bei«, schreibt Kropotkin, der dann den Rat von Florenz zitiert: »Keine Werke sollen von der Gemeinde begonnen werden als solche, die entworfen sind im Einklang mit dem großen Herzen der Gemeinde, gebildet aus den Herzen aller Bürger, vereinigt in einem gemeinsamen Willen.«
In weniger entwickelten Ländern bewegen sich die Menschen in großen Gruppen und nicht allein, wie wir es in der U-Bahn und in Autobussen tun. In Mexiko zum Beispiel fahren Lastwagen mit zwanzig Leuten auf der Ladefläche vorbei. Kinder spielen in großen Scharen. Ganze Familien sitzen tagsüber vor ihren Geschäften. Sogar in den Supermärkten – jenen grässlichen Institutionen, die das Einkaufen zu einer so isolierten Tätigkeit machen – plaudern, lachen und klatschen die Mexikaner. In altmodischen katholischen Gesellschaften können wir einen Blick auf das mittelalterliche Leben in England erhaschen.
Im siebzehnten Jahrhundert bildete sich eine neue Lebenseinstellung heraus, als Calvin und andere erklärten, der Mensch befinde sich im Wesentlichen auf einer einsamen Reise zur Erlösung. Der zentrale Text, der diese neue Einsamkeit in England zum Ausdruck brachte und förderte, war John Bunyans Bestseller A Pilgrim’s Progress. Bunyan lebte von 1628 bis 1688 und saß zwölf Jahre im Gefängnis, weil er ohne Priesterweihe öffentlich gepredigt hatte. In A Pilgrim’s Progress, dem wahrscheinlich am häufigsten gelesenen Werk der puritanischen Literatur, verlässt der Pilger seine Familie auf der Suche nach Erlösung und ruft: »Leben, ewiges Leben.« Ich erinnere mich, wie ich die Bilder in dem Exemplar, das wir in unserem Haus hatten, entsetzt anschaute. Der Pilger mit seinem hässlichen Bündel auf dem Rücken unternimmt eine methodische Reise durchs Leben und führt einen einsamen Kampf. Diese Haltung spiegelt sich auch in der bourgeoisen Auffassung von der Arbeit und vom Geldverdienen wider. Boswell berichtet, Dr. Johnson habe A Pilgrim’s Progress für ein großartiges Werk der Vorstellungskraft gehalten. Das mag zutreffen, aber musste es so deprimierend sein? Offenbar war es der selbstverleugnende, nicht der mittelalterliche, dem Vergnügen zugewandte Teil von Johnsons Charakter, der das Buch schätzte.
Man vergleiche das düstere A Pilgrim’s Progress mit dem lebendigen (wenn auch zugegebenermaßen frommen), im vierzehnten Jahrhundert entstandenen Gedicht Piers Plowman, das eine »schöne Welt der Menschen« heraufbeschwört. Man vergleiche das Buch auch mit Chaucers Canterbury Tales (Canterbury-Geschichten, ab ca. 1387). Hier ist die Pilgerfahrt kein einsamer Fußmarsch wie bei Bunyan, sondern ein gesellschaftliches Ereignis. Vielleicht argwöhnten die Protestanten, dass Pilgerfahrten den Menschen Spaß machen könnten, weshalb sie nicht in Frage kamen. Pilger wandern ohne Rangunterschiede in einer großen Gruppe und erzählen einander ihre Geschichten. Nichts von Bunyans elender Frömmigkeit ist bei Chaucer zu finden. Die Canterbury Tales sind eine Feier des Lebens mit all seinem Chaos.
Die Vorstellung vom Leben als einsamem, wenn nicht gar paranoidem Kampf wurde auch von anderen protestantischen Denkern, etwa von Baxter und Bailey, gefördert, wie Max Weber uns in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus vor Augen führt. Laut Calvin war die Erlösung nicht in einer ständigen Abfolge wohltätiger und kreativer Akte zu finden, wie man im Mittelalter gelehrt hatte, sondern in der individuellen Beziehung zu Gott:
Das bedeutet nun aber praktisch, … dass Gott dem hilft, der sich selber hilft, dass also der Calvinist, wie es auch gelegentlich ausgedrückt wird, seine Seligkeit – korrekt müsste es heißen: die Gewissheit von derselben – selbst schafft, dass aber dieses Schaffen nicht wie im Katholizismus in einem allmählichen Aufspeichern verdienstlicher Einzelleistungen bestehen kann, sondern in einer zu jeder Zeit vor der Alternative: erwählt oder verworfen stehenden systematischen Selbstkontrolle …
Tiefes Misstrauen auch gegen den nächsten Freund rät selbst der milde Baxter an, und Bailey empfiehlt direkt, niemandem zu trauen und niemanden etwas Kompromittierendes wissen zu lassen: nur Gott soll der Vertrauensmann sein.
In Cobbetts Geschichte der protestantischen Reformation gibt es einige wunderbare Einblicke in die »alten Sitten«. Die Zerstörung der Klöster zog
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