Die Kunst, gelassen zu erziehen
Wir können ihnen zum Beispiel eine Auswahl anbieten: »Möchtest du den blauen oder den roten Pullover anziehen?« Auf diese Weise hat es weder das Gefühl, dass ständig über seinen Kopf hinweg entschieden wird, noch fühlt es sich überfordert. Folgendes Beispiel zeigt, dass es auch in Konfliktsituationen sinnvoll ist, Kinder in das Suchen von Lösungen mit EINZUBEZIEHEN . Der amerikanische Pädagoge Alfie Kohn schilderte in einem Vortrag einen Konflikt aus seinem Familienleben, als seine Tochter fünf Jahre alt war. Sie ging sehr gern in den Kindergarten, trotzdem wurde sie morgens einfach nicht rechtzeitig fertig. Die Eltern hatten ihr Bestes getan: Sie weckten sie rechtzeitig, erinnerten sie immer wieder, wenn sie die Zeit vergaß – aber irgendwie wurde es fast immer knapp, sodass die Eltern begannen zu drängeln. Eines Tages, Alfie Kohn hatte seine Tochter gerade wieder zur Eile ermahnt, sagte seine Frau zu ihm: »Sag mal, was würde eigentlich Alfie Kohn dazu sagen, wie wir uns hier jeden Morgen aufführen?« Beide mussten lachen und beschlossen, das Problem auf andere Weise anzugehen. Nach dem Abendessen, die Familie saß entspannt beisammen, sprachen sie ihre Tochter auf ihr Problem an. Zunächst einmal sagten sie ihr, dass sie mit ihr gemeinsam gerne einen Weg finden würden, dass es am Morgen nicht immer so stressig zugeht. Dann fragten sie ihre Tochter, ob sie mal vorspielen wolle, wie sich ihre Eltern morgens so benähmen, wenn die Zeit knapp wird. Wie die meisten Kinder ging sie auf dieses Angebot mit Begeisterung ein. – Es braucht schon einen gesunden Humor, in diesen Spiegel zu schauen, denn unsere Kinder spielen uns beunruhigend gut, wenn wir sie dazu einladen. Aber es lohnt sich, denn es vermittelt den Kindern, dass seine Eltern bereitsind, sich selbst infrage zu stellen, und mit ihm gemeinsam eine Lösung finden wollen.
Die Suche nach einer Lösung war eine Art BRAINSTORMING und zog sich eine Weile hin, bis die Tochter nachdenklich meinte, dass es das Anziehen sei, das morgens am längsten dauern und sie am meisten nerven würde. Sie schlug vor, das schon am Abend vorher zu machen und einfach in ihrer Kleidung zu schlafen. Die Eltern sahen sich an und sie fragten sich: »Warum eigentlich nicht? Es ist zwar ungewöhnlich, aber es tut niemandem weh.« – Und so geschah es. Ab diesem Tag waren die Morgen entspannt, das Problem war gelöst.
Entscheidend ist hier nicht die Lösung selbst – es geht nicht darum, dass das Schlafen in Kleidern das neue Patentrezept für trödelnde Kinder ist. Vielleicht hätte eine andere Familie, die mehr Wert auf ein gepflegtes Äußeres legt, eine andere Lösung gefunden. Worum es geht, ist die innere Haltung der Eltern. Sie haben nicht mit Konsequenzen gedroht, sondern das Kind miteinbezogen, das eine kreative Lösung fand. Und sie haben schließlich genug Flexibilität und Offenheit gezeigt, den ungewöhnlichen Vorschlag ihrer Tochter zu akzeptieren.
Mit dem Kind in Verbindung bleiben
Manchmal müssen wir für unser Kind Entscheidungen treffen, mit denen wir schon früh wichtige Weichen für seinen Lebensweg stellen. Beispielsweise ob das Kind die Kinderkrippe besuchen soll, welche weiterführende Schule die richtige ist oder wo es nach der Trennung der Eltern leben soll. Bis zu einem bestimmten Alter können wir unser Kind noch nicht oder nur teilweise in die Entscheidung einbeziehen. Trotz allen Ringens wissen wir am Ende doch nicht mit Sicherheit, ob unsere Entscheidung die richtige war. Dabei kann es uns sehr helfen, wenn wir diesen Prozess in einem BRIEF an unser Kind festhalten. Dadurch sind wir zum einen mit unserem Kind verbunden, wir reflektieren das Thema im indirekten Austausch mit ihm. Zum anderen können wir den Brief später an unser Kind weitergeben, und es kann dann nachvollziehen, was uns zu der Entscheidung veranlasst hat. Dieser Prozess vertieft nicht nur die momentane Beziehung zu unserem Kind, sondern schafft auch eine wichtige Gesprächs- und Vertrauensbasis für das spätere Verhältnis. Solche Briefe eignen sich auch gut, um Ängste und Sorgen zu formulieren oder um unserem Kind mitzuteilen, was wir ihm wünschen. Statt Briefen können wir auch ein Buch schreiben, in dem wir unser Kind ansprechen und die tiefe Verbundenheit zwischen uns und unserem Kind festigen.
Das Herz gleicht einem Garten. Es kann Mitgefühl oder Angst, Groll oder Liebe wachsen lassen. Was für Keimlinge willst du darin anpflanzen?
[ Jack Kornfield |
Weitere Kostenlose Bücher