Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
jeglichen Gemeinschaftssinn unterhöhlt.« 7
Wie gezeigt, hatten die Denker der Freiburger Schule die Entgleisungen und den Verfall der Sitten bereits befürchtet. Und je älter Röpke wurde, desto pessimistischer wurde er. Statt des ersehnten »Liberalismus von unten« sah er bereits 1958 überall gigantische Marktkräfte am Werk, eine entfesselte Wirtschaft, die das freie Spiel zerstörte. 8 Aus den »gesunden« Werten der Bescheidenheit, des einfachen Lebensstils, der Familienbande und -traditionen war eine Welt des Maßlosen geworden. Auch auf europäischer Ebene sah er die Wirtschaft schief zusammenwachsen, aneinandergeschweißt allein durch finanzielle Interessen und ohne echte Werte.
Dabei blieben Ende der 1950er Jahre viele Entwicklungen nur dunkel geahnt, die inzwischen längst explodiert sind: Die Wirtschaft hat sich in vielen Bereichen zum globalen Markt gewandelt, aber eine globale Ordnungspolitik, die diesen Namen verdient, gibt es nicht. Die Wirtschaftswissenschaften haben ihr Kerngeschäft, die Ethik, beiseitegeschoben in dem Wahn, eine exakte Wissenschaft sein zu wollen wie die Mathematik, was sie aber nicht sind und nie sein werden. 9 Das Internet hat die internationalen Geschäfte in zweifacher Hinsicht abstrakter und damit verantwortungsloser gemacht: Wenn Millionenbeträge nur
durch einen schnellen Tastendruck am Computer ihren Besitzer wechseln, findet der ehrbare Kaufmann keinen Sitzplatz mehr. Geschäfte, wie sie heute in der internationalen Finanzwelt üblich sind, kennen keine Zeit zum Abwägen und keine Gesichter. Psychologische Spielregeln und soziale Übereinkünfte verlieren damit enorm an Einfluss. Ein Apotheker, der ein zweifelhaftes Medikament verkauft, muss fürchten, dass ihn der Kunde später zur Rede stellt oder gar seinen Ruf ruiniert. Ein gesichtsloser Medikamentenvertreiber im Internet kommt um dieses Risiko leicht herum. Nicht anders erklärt sich die Entwicklung an den globalen Finanzmärkten. Aus einer Welt des Zwischenmenschlichen ist eine Welt der Zahlen geworden, der Symbole und flüchtigen Gewinne.
Wenn es darum geht, eine neue alte Fairness wiederherzustellen, sind sich alle einig. Politiker, Ökonomen und Journalisten fordern unisono, dass es jetzt und in Zukunft vor allem um eines gehe: dass man das Vertrauen zurückgewinnt. Die Frage ist nur: auf welcher Grundlage? Wenn unsere Art zu wirtschaften sich nicht in vielen wesentlichen Dingen ändert, ist Vertrauen sicher naiv und Misstrauen überaus berechtigt. Wir brauchen nicht nur ein paar neue Banker und einen Katalog guter Absichten und Vertrauensbeschwörungen - wir brauchen ganz konkrete Eingriffe in das vorherrschende System von Wirtschaft und Finanzwelt. Um nicht als Osterinsulaner zu enden, müssen wir unsere Wachstumsvorstellungen korrigieren. Und um nicht zu Hobbes’schen Wölfen zu werden, müssen wir unsere auf Status programmierte Gesellschaft neu justieren.
Für viele Menschen gerät man noch immer leicht in den Verdacht, esoterisch oder weltfremd zu sein, wenn man davon redet, dass ein Mehr an materiellem Wohlstand nicht sein muss und auch nicht sein darf. Man steht als naiv da, als ein schöngeistiger Idealist. Denn man weiß ja, der Mensch ist eben nicht so. Er ist aufs Wachstum programmiert, biologisch sozusagen. Doch genau das ist nicht Menschenkenntnis, sondern Unwissenheit -
man denke an das einseitige Menschenbild des Manns von der Buchmesse (vgl. Wolf unter Wölfen. Das sogenannte Schlechte).
In der Ökonomie haben wir es, wie gezeigt, mit dem genau gleichen Vorurteil zu tun wie in der Moral: Der Mensch könne sich »von Natur aus« nicht bescheiden. Dabei ist das mit der Menschennatur und ihren auch von Ökonomen oft beschworenen animal spirits so eine Sache. Sie müssen nicht zwangsläufig die sozialen Instinkte des Egoisten sein, sondern sie gebären, wie gezeigt, auch den Altruismus. Schon Keynes, als er den Begriff 1936 in die Wirtschaftswissenschaften einführte, sprach davon, dass sie uns auch und vor allem zu Entscheidungen verführen, »irgendetwas Gutes zu tun«. 10
Doch selbst wenn es zumindest stimmen sollte, dass uns unsere Gier nach Befriedigung nie zur Ruhe kommen lässt (das Leben meiner Großeltern spricht, wie gesagt, eine andere Sprache), so muss das Ziel meines Strebens ja nicht zwangsläufig ein Mehr an Geld und Gütern sein. Wie aus den vielen zitierten Statistiken ersichtlich, sehnen sich die Menschen in der Bundesrepublik stärker nach einem Mehr an Zeit, Liebe,
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