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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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konsequent in die gleiche Richtung, und zwar völlig unabhängig davon, ob ihre Regierungen sich als »rechts« oder »links« deklarierten. Vorbild für alle war das anglo-amerikanische Wirtschaftsmodell, das mit der Präsidentschaft Ronald Reagans und mit der Regentschaft Margaret Thatchers begonnen hatte: weniger Staat und mehr Freiraum für die Wirtschaft, insbesondere die Finanzwirtschaft. Öffentliche Güter wie Eisenbahn, Telekommunikation, Stromoder Wasservorsorgung wurden kommerzialisiert und teilweise privatisiert. Kommunen, Länder und Staaten verscherbelten ihr Tafelsilber an den Meistbietenden oder diejenigen mit den erfolgreichsten Lobbys. Freie Wirtschaft ist in jedem Fall besser als Staat, lautete die allgemeine Losung. 3 Und was den Unternehmen nützte, sollte auch dem durchschnittlichen Bürger nützen. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung Ende der 1990er Jahre durften sich Millionen kleiner Leute sogar selbst als Kapitalisten
fühlen. Sie erwarben Aktienpakete und spekulierten auf Gewinne mit aktienfondsgebundenen Renten- und Lebensversicherungen: »Wir«, so konnte man frei nach Friedrich Schiller dichten, »wollen sein ein einig Volk von Aktionären.«
    Dieser Traum ist heute geplatzt. Alles in allem haben Kleinanleger im letzten Jahrzehnt netto überwiegend Geld verloren. 4 Die Bank, so scheint es, gewinnt eben immer. Die Kommerzialisierung der Energieversorgung hat die Preise nicht gesenkt, sondern horrend steigen lassen, und viele kommerzialisierte Serviceleistungen, die früher öffentlich-rechtlich erbracht wurden, haben sich arg verschlechtert. Dafür aber ging in nahezu jedem westeuropäischen Land die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf.
    Dieses sich als »neoliberal« selbst missverstehende Finanz-, Wirtschafts- und Denkmodell ist heute bankrott. Die Finanzkrise belehrt ebenso unmissverständlich darüber wie der moralische Notstand unseres Wirtschaftssystems. Die wahren Vordenker des Neoliberalismus, Männer wie Eucken, Rüstow oder Röpke, würde er das Gruseln lehren. So nämlich war die Sache mit der sozialen Marktwirtschaft nie gemeint gewesen. Doch zu spät: Der Neoliberalismus ist nicht nur mit der Moral-Kasse durchgebrannt, er hinterlässt auch einen Scherbenhaufen in Kommunen, Ländern und Volkswirtschaften; einen Berg an Schulden und einen Ausverkauf an gesellschaftlichem Besitz. Rüstow und Eucken aber, den wohlmeinenden, besonnenen und mahnenden Vorvätern der Idee, ergeht es nicht anders als den Statuen von Marx und Engels auf dem gleichnamigen Forum am Alexanderplatz in Berlin. Geistreiche Witzbolde hatten ihnen nach dem Zusammenbruch der DDR den Satz auf den Rücken gesprüht: »Wir sind unschuldig!«
    Dass der heute so beschriebene »Neoliberalismus« keine Lösung ist, sondern das Problem, hat sich inzwischen weit herumgesprochen bis hinein in Europas liberale Parteien. Der Ruf nach »weniger Staat«, der bis zur Finanzkrise in jeder Talkshow zu hören war, ist verstummt. Wenn wir unsere Gesellschaft besser
machen wollen, als sie ist, dürfen wir sie nicht dem Spiel der Marktkräfte ausliefern, sondern wir müssen eingreifen, mitplanen und regulieren. 5
    Wo noch vor kurzem irgendwelche reinen Gesetze des Marktes wirken sollten, geht es heute darum, dass der Staat Richtung und Verlauf der Wirtschaft wieder stärker mitbestimmt. In den Worten des Konstanzer Philosophen Jürgen Mittelstraß (*1936) heißt dies: »der gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung ihre wirtschaftlichen Dimensionen und der wirtschaftlichen Entwicklung ihre gesellschaftlichen und sozialen Dimensionen zurückzugewinnen.« 6
    Was sich dabei abzeichnet, ist kein Richtungsstreit, sondern vor allem ein hoch spannender Machtkampf. Es ist nicht nur eine Frage des Umdenkens und des Wollens, sondern auch eine Frage der Interessen derjenigen, die sich von den nötigen Veränderungen keinen finanziellen Vorteil versprechen, selbst wenn diese allen anderen nützen. Wie viel Kraft besitzen die Regierungen der westlichen Welt, um ihre allzu mächtig gewordenen Global Player der Wirtschafts- und Finanzwelt in die Schranken zu weisen? Ist dieser durch Steuerrecht und Vorteilsnahmen begünstigten Konzentration an wirtschaftlicher Macht mit demokratischen Mitteln überhaupt noch beizukommen? Dieser Kampf findet heute sowohl innerhalb der Nationalstaaten statt wie zwischen den Staaten, und er betrifft die Energieversorgung einer Kleinstadt ebenso wie die globalen Verhandlungen um Klimaziele und Bankenaufsicht.

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