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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Gesellschaft deshalb zu einer Belastung und Gefahr. Je zweckrationaler die Menschen ihren Nutzen kalkulieren, umso ungesünder wird das gesellschaftliche Klima. Der Markt ist ein »Moralzehrer«, der unsere moralisch-sittlichen Reserven verbraucht. Wer unausgesetzt nach seinem persönlichen Vorteil giert, zerstört langfristig das Gemeinwesen.
    Was tun? Röpke war weit davon entfernt, den Kapitalismus grundsätzlich infrage zu stellen, und sah auch nirgendwo eine Alternative. Das Einzige, was blieb, war ein Staat, der unausgesetzt gegen die Strömung steuerte, um den sittlichen Verfall seiner Bürger in Markt und Wettbewerb zu verhindern. Für Röpke war der Markt kein absolutes Prinzip, sondern lediglich ein mitunter gefährliches, aber doch alternativloses Mittel. Das sogenannte »Individualprinzip« als elementarer Kern der Marktwirtschaft sollte deshalb mit einem durchdachten »Sozial- und Humanitätsprinzip« in Balance gehalten werden. »Soziale Marktwirtschaft«, ein Begriff von Röpkes Kollegen Alfred Müller-Armack, war also nicht nur eine Marktordnung, sondern ein gesellschaftliches Erziehungs- und Bildungsmodell. In dieser Hinsicht waren Röpke und seine Mitstreiter Utopisten. Nicht nur eine gute Gesellschaftsordnung, sondern gute Menschen waren ihr Ziel, ein »ökonomischer Humanismus«. Von der Politik bis zur Zentralbank sollte das gleiche Credo gelten: das Einschwören der Gesellschaft auf die »richtigen« Werte von Fairness und Anstand, Rücksicht und Fürsorge, Ehrlichkeit und Vertrauen.
    Pragmatischer, aber nicht grundsätzlich anders, sah es der aus dem Zigarren-Dunstkreis der Freiburger Schule stammende
deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897-1977). In der Frühphase der Bundesrepublik mit ihrer eigentümlichen Mischung aus Schuld, schlechtem Gewissen, Kriegsgräberfürsorge, Katholizismus, Anti-Kommunismus, langen Arbeitszeiten, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder war das zunächst nicht schwer. Die Werte der Moral und die Werte des Wohlstands passten hier eigentümlich zusammen.
    Doch die moralische Selbstbindung an »bürgerliche« Tugenden und der Gleichklang von Freiheit, Verantwortung und Haftung währten nicht allzu lange. Bereits Anfang der 1970er Jahre diagnostizierte der US-amerikanische Soziologe Daniel Bell (*1919) von der Harvard University das Wertedilemma der westlichen Gesellschaften. 6 Das Zeitalter der Ideologien, stellte Bell fest, sei zwar innerhalb des Westens passé, aber es hinterließe einen höchst ungereimten Zustand. Der westliche Mensch zerfalle heute in zwei Teile, die nicht mehr zusammenpassen. Die Wirtschaft benötige einen egoistischen Hedonisten und unersättlichen Konsumenten, der nie zufrieden ist, disziplinlos in seiner Gier nach mehr. Die Gesellschaft dagegen brauche einen anständigen und bescheidenen Mitbürger, hilfsbereit und zufrieden. Wie soll man bei solchen Voraussetzungen seine Kinder erziehen? Wie soll man ein klares und überzeugendes Ideal formulieren? Was sind unter diesen Umständen die Leitwerte?
    Moralisch betrachtet ist die ökonomische Rationalität, die die westliche Welt seit zwei Jahrhunderten auf beispiellose Weise materiell vorangebracht hat, parasitär. Unausgesetzt nagt sie an unseren gesellschaftlichen Fundamenten und züchtet mit enormem finanziellem Werbeaufwand harte Egoisten. Falls es dazu noch eines Beweises bedarf, so lieferte ihn schon zur vorletzten Bundestagswahl das Magazin Focus: »Wen würde Ihr Geld wählen?« lautete der Titel. Wählen allein nach monetären Interessen - auffälliger lässt sich die Aufkündigung der Solidarität nicht plakatieren. Am Ende steht eine Gesellschaft, wie Stiglitz sie im Hinblick auf die jüngste Finanzkrise beschreibt:
»Zu viele Menschen haben andere ausgenutzt. Vertrauen ging in die Brüche. Fast jeder Tag bescherte uns neue Berichte über das Fehlverhalten von Menschen im Finanzsektor - Schneeballsysteme, Insiderhandel, betrügerische Kreditvergabe und eine Vielzahl unlauterer Kreditkartenpraktiken, die allein darauf abzielten, den Kartennutzer auszupressen wie eine Zitrone … Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der der Materialismus über moralische Bindungen obsiegte, in der das Wachstum, das wir erreicht haben, weder ökologisch nachhaltig noch langfristig gesellschaftlich tragfähig ist, in der wir nicht als Gemeinschaft handeln, um unsere gemeinsamen Bedürfnisse zu befriedigen - unter anderem, weil ein radikaler Individualismus und ›Marktfundamentalismus‹

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