Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
geben. Und genau hier haben wir einen entscheidenden Punkt getroffen - unser modernes Dilemma. Auf der einen Seite glauben die meisten Menschen in Westeuropa schon lange nicht mehr an eine kosmische Ordnung der Moral. Sie bezweifeln, dass Gott oder die Natur eine Hierarchie der Werte vorgegeben haben. Und auf der anderen Seite brauchen wir in unserem täglichen Leben und Zusammenleben einen Halt, der uns hilft, moralische Entscheidungen zu treffen und die Entscheidungen anderer zu beurteilen. Wie konnte es passieren,
dass die SS-Leute in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ihre Arbeit als »in Ordnung« einstuften? Wie leben Menschen in den reichen Industrienationen damit, dass jedes Jahr sieben Millionen Kinder in der sogenannten Dritten Welt verhungern? Wie beurteilen wir die Handlungsweise von Bankern, die im Jahr 2008 weltweit mehrere Billionen Dollar verbrannt haben?
Was wir aus Platons Irrtum von der Idee des Guten lernen können, ist, dass es kein »Gutes« gibt jenseits anderer Menschen. Kein Gutes also, das nicht von dieser Welt sein soll. Das Gute ist eine relative Sache. Aber das sehr Eigentümliche daran ist: eine relative Sache mit einem oftmals absoluten Anspruch. Und dieses Paradox ist unvermeidbar. Denn wenn es auch richtig ist, dass es jenseits des menschlichen Lebens und Zusammenlebens kein Gutes in der Welt gibt, so behandeln wir das Gute notwendigerweise doch häufig so, als ob es absolut und objektiv wäre.
Warum das so ist und wie wir diesen Spagat anstellen, davon wird noch ausführlich die Rede sein. Zuvor aber sollten wir uns der Kehrseite des Guten zuwenden, von der bislang kaum die Rede war - dem Schlechten. Wenn wir uns moralisch entscheiden, das wusste auch Platon, entscheiden wir uns nach zwei Gesichtspunkten: Was ist gut, und was ist gut für mich? Man denke an Achilles, der ein Held wurde, weil dies als einziger Lebensweg seinen Neigungen entsprach. Aber sind diese Neigungen in unserem Leben nicht viel dominanter als etwa die Idee des Guten? Handele ich in Wirklichkeit nicht fast immer nach der Richtschnur: Was ist für mich vorteilhaft? Gieren wir nicht unentwegt nach unserem Vorteil? Mit anderen Worten: Sind wir, Gutes hin, Schlechtes her, im Grunde nicht alle - Egoisten?
• Wolf unter Wölfen. Das sogenannte Schlechte
Wolf unter Wölfen
Das sogenannte Schlechte
Ein Tag genügt, um festzustellen, dass ein Mensch böse ist; man braucht ein Leben, um festzustellen, dass er gut ist.
Théodore Jouffroy
Die Leipziger Buchmesse ist die schönere der beiden großen Buchmessen in Deutschland. Überall in der Stadt gibt es gut besuchte Lesungen und Buchpräsentationen. Und in den hellen luftigen Messehallen vor den Toren Leipzigs ist öffentlicher Zutritt gestattet und erwünscht. Für Autoren ergeben sich so viele Gelegenheiten, mit Lesern zu reden und zu diskutieren. Im Frühjahr 2009 kam ein Mann an den Messestand meines Verlages und erklärte mir in einem leicht aufgebrachten Ton: Mein Buch Wer bin ich? hätte ihm durchaus gut gefallen, aber bei meinem Buch über die Liebe, das damals gerade erschienen war, läge ich falsch. Der Grund für seine so unterschiedlichen Urteile war schnell benannt. Am ersten Buch schätzte er den Versuch, die biologischen Grundlagen unseres Denkens und Verhaltens mit einzubeziehen und manches philosophische Luftschloss damit zu entzaubern. Umso enttäuschter war er, dass ich im zweiten Buch den biologischen Erklärungen der Liebe misstraute. Ich war (und bin immer noch) der Meinung, dass sich die Liebe nicht aus der Sexualität und damit eben auch nicht durch biologische Mechanismen, etwa durch Fortpflanzungsstrategien, erklären ließe. Stattdessen meinte ich, dass die Kultur durchaus die Kraft hätte, beim Menschen etwas so Unvergleichliches hervorzuzaubern wie die romantische Liebe zwischen Frau und Mann.
Das Bild, das ich damit von der kulturellen Natur des Menschen entwarf, war meinem Kritiker viel zu harmlos und wohlmeinend. »Wissen Sie was«, sagte er zu mir, »die Menschen sind nicht gut, und ihre Natur ist nicht kultiviert. Wenn Sie die Decke der Zivilisation wegziehen, wenn es also wirklich hart auf hart kommt, dann sind wir alle wieder reine Naturwesen, egoistische Bestien, rücksichtslos und brutal. Und dann regiert nur noch unsere Biologie und nicht mehr die Kultur.«
Im Trubel einer Buchmesse bleibt wenig Zeit, über so etwas nachzudenken. Aber zuhause am Schreibtisch sammelte ich meine Gedanken und
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