Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
und belohnt als ein vorbildlich handelnder Ungläubiger.
Die moralische Gleichgültigkeit der höchsten Instanz, der es am meisten schmeichelt, dass man an sie glaubt, ist selbst für den Gläubigen eine bittere Pille. Wie soll er leben? Kann es tatsächlich sein, dass er Gott in gleichem Maße dient, wenn er ins Kloster geht und dort die Bibliothek betreut, wie wenn er sich um die Straßenkinder in São Paulo oder in Kalkutta kümmert? Selbst wenn es richtig sein sollte, dass, wie viele Religionen meinen, das Leben die Frage einer richtigen Wahl ist, so verschwindet damit noch lange nicht die schwierige Entscheidung zwischen Alternativen.
Wahrscheinlich sollte man dies alles positiv sehen. Ist es nicht gut so, dass es nicht nur auf eine Wahl ankommt? Wir brauchen uns nur eine Gesellschaft vorzustellen, in der alle Mitglieder eine einzige große Wahl treffen und damit alle ihre Entscheidungsnöte verlieren würden. Es wäre eine Gesinnungsdiktatur, eine
moralische Monokultur. Der Stalinismus, der Nationalsozialismus und viele religiöse Diktaturen haben sich an solchen Modellen versucht. Und das Ergebnis war in jedem Fall fürchterlich. Wenn alles durch eine Wahl wohlgeordnet sein soll (Kommunist oder Nicht-Kommunist, Nazi oder Nicht-Nazi, Gläubiger oder Ungläubiger), so rüttelt jeder Widerspruch und jede Uneinigkeit an den Grundfesten des Systems und muss sofort bekämpft werden. Von der Idee einer optimalen Gesellschaft zur brutalen Unterdrückung ist es nur ein kleiner Schritt. Nichts in der Geschichte der Menschheit legitimiert so unendliches Leid und Elend wie die gute Absicht.
Eine Gesellschaft unter dem Diktat des (wie auch immer definierten) Guten ist so tot wie eine jener vielen totalitären Idealstädte, von denen die Architekten jahrhundertelang geträumt haben. Das Paris der Zukunft, das der Schweizer Architekt Le Corbusier entwarf, ist eine geometrische Wüste aus Planquadraten und Wohnsilos. Hier gibt es keine Überraschungen, keine Unwägbarkeiten und keine Zufälle. Mit anderen Worten - kein Leben!
Das Gute an sich gibt es nicht. Mit Albert Einstein gesagt: »Das Moralische ist keine göttliche, sondern eine rein menschliche Angelegenheit.« 5 Das Gute ist eine hübsche Idee der Menschen, ein Abstraktum, das es im Tierreich sonst vermutlich nicht gibt. Wir haben wenig Grund anzunehmen, dass Schimpansen oder Gorillas »das Gute« vom Bösen unterscheiden. Für sie reicht es offensichtlich aus, dass sie eine Situation als positiv oder negativ einschätzen. Ein Spiel des Affenjungen mit seiner Mutter fühlt sich gut an und erweckt Freude und Heiterkeit; dass ein Geschwisterkind ihm die Banane aus der Hand reißt und aufisst, fühlt sich schlecht an und weckt Aggression oder Verzweiflung. Ein abstraktes Gutes oder Schlechtes, mithin eine daraus abgeleitete Norm, ist allen Tieren mit Ausnahme des Menschen höchstwahrscheinlich fremd.
Da Menschen fast überall in der Welt dazu in der Lage waren
und sind, das Wort »gut« zu formen, ist es heute in der Welt. Aber es ist kein Geheimnis, dass es zwar mehr als hunderttausend bedruckte Seiten zu diesem Thema gibt - aber keine gute Definition dessen, was das Gute eigentlich sein soll. Der englische Sprachphilosoph Gilbert Ryle (1900-1976) war sogar der Ansicht, dass man einen solch unscharfen, undefinierten und verwirrenden Ausdruck lieber gar nicht gebrauchen sollte. 6 Gut Gemeintes kann böse enden. Und aus Bösem können gute Nebenfolgen entstehen. Das Gute ist also keine Tatsache, sondern eine Interpretation. Alle politischen Parteien in Deutschland zum Beispiel glauben sich vermutlich selbst, wenn sie sagen, dass sie »das Beste« für Deutschland wollen. Aber was das Beste ist, darüber kann man sich anschreien, streiten und auslachen. Und um für das Gute zu kämpfen, scheinen selbst Unehrlichkeit, Gehässigkeit und Denunziation legitime Mittel zu sein.
Dagegen ließe sich einwenden: Was gut für mich ist, muss nicht unbedingt gut für andere sein. Doch wenn die Idee des Guten auf diese Weise zertrümmert wird, geht dabei nicht auch etwas sehr Wichtiges verloren? Ist das Gute denn tatsächlich völlig relativ? Und jeder Mensch darf zu jeder Zeit für gut halten, was ihm gerade in den Sinn kommt? Wenn uns ein Ratingsystem der Tugenden, wie Platon es vorschlug, verlorengeht, was tritt an dessen Stelle?
Hier müssen wir Platon also etwas in Schutz nehmen. Eine Moral ganz ohne Hierarchie, ohne eine vorgegebene Wertung und Bewertung kann es nicht
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