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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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fahndete Huxley nach echten Spuren unserer Herkunft bei unseren nächsten Verwandten, den Affen. Huxleys Naturzustand sollte der tatsächliche Zustand des Menschen in der Vorvergangenheit sein. Als erster Wissenschaftler überhaupt sortierte Huxley den Menschen 1860 unter die Menschenaffen ein. Er stellte ihn neben den soeben erst entdeckten Gorilla, von dem er annahm, er sei unser nächster Verwandter. 4
    Die ersten Nachrichten, die aus Westafrika über den Gorilla kamen, waren allerdings extrem widersprüchlich. Zumeist erschien er als ein blutgieriges Riesenmonster, eine wilde Bestie mit unstillbarem Appetit auf Menschenfleisch und einem sexuellen Faible für Menschenfrauen. Doch es gab auch anders lautende
Berichte. Der englische Forscher Winwood Reade zum Beispiel berichtete von sanften Vegetariern, scheu und zurückhaltend und ohne jedes Interesse an Menschen. 5 Nach drei Jahrzehnten hatte sich Reades Sicht des Gorillas in der Wissenschaft durchgesetzt. Während die Öffentlichkeit sich noch bis weit ins 20. Jahrhundert an King-Kong-Märchen ergötzte, wusste es die Fachwelt längst besser.
    Umso erstaunlicher erscheint die folgende Begebenheit. Im Jahr 1893 nämlich hält Huxley einen verhängnisvollen Vortrag im brechend vollen Hörsaal der Universität Oxford. Das Thema: »Evolution und Ethik«. Die Pointe: Der Mensch ist von Natur aus schlecht. Er ist eine unmoralische Bestie wie alle anderen Lebewesen auch. Sein natürliches Interesse ist der Kampf ums Überleben ohne Rücksicht auf Verluste. Erst zu einer sehr späten Stufe seiner Entwicklung kam der Mensch auf die Moral. Sie ist eine Erfindung nicht der Natur, sondern der Kultur, ein »scharf geschmiedetes Schwert« des Menschen, »um den Drachen seiner tierischen Herkunft zu schlachten«. 6 Natur und Moral, so Huxley, stehen zueinander in einem tiefen Widerspruch. Kein Wunder, dass der Mensch sich ständig mit seinen dunklen Trieben und Antrieben auseinandersetzen muss. Er müht sich, das ganz natürliche Böse in sich zu unterdrücken. Wie ein Gärtner, der täglich seinen Garten kultiviert, so liege auch der Mensch in ständigem Kampf mit dem Unkraut seiner wildwüchsigen Natur.
    Mein Kritiker von der Leipziger Buchmesse darf sich freuen. In Huxley findet er einen wackeren Mitstreiter im Geiste. Haben sie beide Recht, so wäre der Mensch kein moralisches Wesen, sondern nur notdürftig moralisch lackiert. In seinem Inneren aber lauerte auch heute noch die kaum gezähmte Bestie.
    Könnte diese Sicht des Menschen stimmen? Sind wir von Natur aus grausam, rücksichtslos, egoistisch und brutal? Gehen wir noch einmal zu Huxley zurück. Er war einer der bedeutendsten Vertreter der Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert. Und eines seiner wichtigsten Ziele war zu zeigen, wie der Mensch sich ganz
allmählich entwickelt hat: von den Protozoen zu den Wirbeltieren, von den Affen zu seiner heutigen Gestalt. Huxley war der Überzeugung, dass wir so sind, wie wir sind, weil der Druck der Umweltbedingungen, der auf unseren Vorfahren lastete, uns geformt hat. Unser heutiger Zuschnitt, unser Aussehen und unser Verhalten sind also das Produkt der Evolution. Und so wie unsere Körperhaare noch den Affen erkennen lassen, so auch unser Verhalten. Wir sind gesellig, wir leben in Sozialverbänden, wir sind mehr oder weniger machtlüstern, weil wir Menschenaffen sind. Doch warum in aller Welt sollte einzig und allein unsere Fähigkeit zur Moral, unsere Fürsorge, unsere Freundlichkeit, unsere Hilfsbereitschaft und unsere Kooperation hierbei eine Ausnahme machen? Warum sollte alles aus der Natur kommen, nur dies nicht? Wenn Huxley Reades Bericht las - und er hat ihn gelesen -, lernte er da nicht, dass auch Gorillas soziale Wesen sind, fürsorglich und kooperativ?
    Um es einfach zu sagen: In seinem Vortrag über »Evolution und Ethik« widersprach Huxley sich selbst. Ohne es zu merken, so scheint es, stellte er sich gegen die zentrale Schlussfolgerung seines eigenen Lebenswerkes: dass unser ganzes Verhalten seinen Keim in der Natur hat. So schrieb er tatsächlich in einem seiner Briefe: »In der Frage der Moral sehe ich keine Spur in der Natur. Es ist dies ein Produkt exklusiv hergestellt vom Menschen.« 7 Wie war Huxley zu einer solchen Sicht gekommen? Man kann vermuten, dass es dafür zwei Gründe gibt. Der erste dürfte in der Theorie Darwins liegen; der zweite in Huxleys Biografie. 8
    Darwin selbst war der Ansicht, dass unsere Fähigkeit zur Moral aus unseren natürlichen

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