Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
versuchte sie zu ordnen. Hatte der Mann Recht? Ist der Mensch von Natur aus eine Bestie? Lauert unter der zivilisatorischen Tünche das Raubtier? Ist das Böse eigentlicher als das Gute? Und kann man auf diese Weise die so oft desaströs verlaufende Weltgeschichte erklären?
Die Frage ist ausgesprochen schwierig. Denn sie ist von vielen Missverständnissen gleichsam umstellt: Wie egoistisch ist der Mensch? Ziemlich unterschiedlich, würden wir spontan sagen. Aber der Adressat einer solchen Frage ist ja nicht jeder einzelne Mensch, also Sie, Ihre Freunde, Ihre Feinde oder ich, sondern der »Mensch an sich«. Philosophen wüssten gerne, wie egoistisch der Mensch von Natur aus ist. Mit anderen Worten: Wie viel unveränderliche egoistische Substanz steckt in jedem Homo sapiens?
Schaut man in die Geschichte der Philosophie, so wird man feststellen, dass die meisten Philosophen ein eher optimistisches Bild von der menschlichen Natur zeichnen. Die Zahl derjenigen, die den Menschen von Natur aus für gut halten, ist größer als die Zahl derjenigen, die meinen, er sei von Natur schlecht. Aber Philosophen, speziell Moralphilosophen, sind eben Berufsoptimisten. Wer den Menschen von Natur aus für schlecht hält, verbaut sich von vornherein den Weg, ihn zum Besseren erziehen zu können. Ist also nur der mehr oder weniger fromme Wunsch Vater dieser Gedanken?
Immerhin, auch die Pessimisten werden in der Geschichte der
Philosophie fündig. Als beliebter Kronzeuge für die böse Natur des Menschen gilt gemeinhin der Engländer Thomas Hobbes. 1 Er wurde im Jahr 1588 in Westport in der Grafschaft Wiltshire geboren. Sein Leben fiel in eine äußerst bewegte und kriegerische Zeit. Im Jahr seiner Geburt attackierte die spanische Armada, die bis dahin größte Seestreitmacht der Geschichte, England. Hobbes selbst sollte das Ereignis mit englischem Humor in seinen Memoiren festhalten: »Meine Mutter brachte Zwillinge zur Welt: mich und die Angst.« 2 Als Wunderkind beginnt er schon mit vierzehn Jahren sein Studium der Logik und Physik in Oxford. Anschließend wird er Hauslehrer der adeligen Familie Cavendish, den Grafen von Devonshire, und bleibt es zeit seines Lebens. Die Stelle ermöglicht ihm ein ruhiges Leben, den Zugriff auf eine gewaltige Privatbibliothek und einen leichten Zugang zu einflussreichen Kreisen.
Hobbes unternimmt große Reisen und trifft Koryphäen wie die Philosophen René Descartes, Pierre Gassendi und den Naturforscher Galileo Galilei. Und er trägt sich mit einem ehrgeizigen Plan: das Wesen des Menschen zu ergründen. Ein vollständiges Haus will er bauen von der Biologie über die Soziologie zur Politik. Die bewegten Zeitläufte allerdings bringen ihn immer wieder davon ab. Unaufhaltsam steuert die englische Gesellschaft seiner Zeit auf den Zusammenbruch zu. Die Zwistigkeiten zwischen Land- und Stadtbevölkerung, zwischen Adel und Bürgertum, Landbesitzern und Manufakturbesitzern eskalieren. Verschärft wird der Konflikt durch das ideologische Bollwerk des Katholizismus und die vielen neuen protestantischen Sekten. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts gibt es in England mehr verschiedene christliche Religionsgemeinschaften als heute weltweit. Hobbes ist 54 Jahre alt, als 1642 der Bürgerkrieg ausbricht. Nachdem er schon zuvor die Partei des Königs ergriffen hat, wagt er sich nun erneut aus der Deckung. In zwei Werken, De Cive (Vom Bürger) und Leviathan, verkündet er seine Vorstellung von einem gerechten Staat und dem getreuen Betragen seiner Bürger.
Statt, wie geplant, mit einem genauen Studium der Biologie des Menschen anzufangen, stolpert Hobbes direkt in die Politik. Entsprechend kurios ist sein Ausgangspunkt. Ursprünglich lebten alle Menschen in einer Wildnis, dem sogenannten »Naturzustand«. Hier herrschte ein »Krieg aller gegen alle«. Hobbes hatte nicht die geringste Ahnung von realen Urmenschen. Aber er kannte und sammelte die vielen zeitgenössischen Erzählungen über das Leben der »Indianer«. Er stellte sich vor, dass im Naturzustand alles drunter und drüber ging. Jeder stand für sich allein, getrieben von Angst und Misstrauen gegen den anderen. Ein solcher Zustand war so unerträglich, dass sich die Menschen schließlich zusammenrauften. Sie entwarfen einen »Vertrag« zur Verbesserung ihrer Lebenssituation. Von nun an sollte ein absoluter Herrscher über alle anderen regieren und ihr Leben regeln, notfalls auch mit Strafe und Gewalt. Die Menschen im Urzustand tauschten ihre alte Freiheit
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