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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Anlagen kommt. So schreibt er 1871 in seinem Buch über die »Abstammung des Menschen«: »Es scheint mir im hohen Grade wahrscheinlich zu sein, dass jedwedes Tier mit wohlausgebildeten sozialen Instinkten (Eltern- und Kindesliebe eingeschlossen) unausbleiblich ein moralisches Gefühl oder Gewissen erlangen würde, sobald sich seine intellektuellen Kräfte so weit oder nahezu so weit wie beim Menschen
entwickelt hätten.« 9 Die Moral geht also als eine zwangsläufige Folge aus der Evolution des Menschen hervor. Andererseits war Darwin, wie Huxley, der Ansicht, dass sie ausschließlich beim Menschen vorzufinden sei: »Das moralische Gefühl … bildet vielleicht die beste und höchste Unterscheidung zwischen dem Menschen und den niederen Tieren.« 10 Die Zusammenstellung dieser beiden Zitate ergibt ein merkwürdiges Bild. Einmal ist Darwin der Ansicht, dass die Fähigkeit zur Moral sich aus den natürlichen Anlagen des Menschen zwangsläufig entwickeln musste. Und zum anderen schließt er sie bei anderen Tieren (wenn auch mit einem vorsichtigen »vielleicht«) aus. Für Huxley, der darauf brannte, Darwins Weltsicht zu einer Philosophie auszubauen, war das eine äußerst unklare Vorlage. Man konnte nun entweder die Gemeinsamkeit mit den Tieren oder aber den Unterschied betonen. Je länger Huxley sich mit der Moral beschäftigte, umso stärker legte er sich schließlich auf die menschliche Sonderstellung fest. Und umso oberflächlicher und dünner erschien ihm der moralische Anstrich.
    Ein wichtiger Umstand, der Huxleys Weltsicht dabei beeinflusst haben könnte, liegt in seiner Familiengeschichte. Sein Vater lebte lange in einem Zustand geistiger Umnachtung und starb vollkommen dement. Zwei von Huxleys Brüdern, George und James, waren psychisch schwer krank; der eine starb früh, der andere galt als geistesgestört. Huxley selbst litt zeit seines Lebens unter sehr schweren Depressionsschüben. Und auch seine Lieblingstochter Marion, die Frau des Malers John Collier, war psychisch überaus labil. Nach der Geburt ihrer Tochter verfiel sie in eine schwere postnatale Depression, von der sie sich nicht mehr erholte. Sie starb 1887 an einer Lungenentzündung. Huxley war tief erschüttert und verzweifelt. Ein halbes Jahr später veröffentlichte er seinen Aufsatz Struggle for Existence and its Bearing upon Man (»Der Kampf ums Dasein und dessen Bedeutung für den Menschen«). Unerbittlich und radikal beschrieb er die Grausamkeit auch der menschlichen Natur. Die Evolution,
so Huxley, sei ein Kampf von Gladiatoren in der Arena. Nur der Stärkere, der Klügere und der Schnellere überlebt. Und am nächsten Tag geht es hinaus in den Kampf, um sich wieder mit anderen Gegnern zu messen. Fünf Jahre später folgte der berühmt-berüchtigte Vortrag in Oxford.
    Huxleys Sicht der Moral als einer fremden Zutat zur eigentlich bösen Menschennatur dürfte tief verwurzelt sein in seiner persönlichen Erfahrung. Gleichwohl war sie nicht ganz überraschend. Das Bild des Menschen hatte sich zu seiner Zeit zunehmend verfinstert. Auch die Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts kannte die Trennung von der rohen Tiernatur des Menschen und der dünnen Tünche der Zivilisation. Selbst der freundliche und optimistische deutsche Aufklärer Johann Gottfried Herder (1744-1803) hielt die Moralität des Menschen wesentlich für eine Erziehungsfrage. Die Bildung zur »Menschlichkeit« sei »ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss, oder wir sinken … zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück«. Im 19. Jahrhundert kippte der Optimismus in Bezug auf die Bildungsfähigkeit des Menschen in einen flächendeckenden Pessimismus. So etwa schrieb der Schriftsteller Robert Musil nach der Lektüre von Huxleys Zeitgenossen, dem Philosophen Friedrich Nietzsche: »Wer auf Stein bauen will im Menschen, darf sich nur der niedrigen Eigenschaften und Leidenschaften bedienen, denn bloß, was aufs Engste mit der Ichsucht zusammenhängt, hat Bestand und kann überall in Rechnung gestellt werden; die höheren Absichten sind unverlässlich, widerspruchsvoll und flüchtig wie der Wind.«
    Ist der Mensch von Natur aus schlecht? Der wichtigste Kritiker dieser Sicht der menschlichen Natur ist heute der niederländische Primatenforscher Frans de Waal, Professor für Psychologie an der Emory University in Atlanta. Immer wieder hat er diese Sicht des Menschen kritisiert. Er nennt sie die »Fassadentheorie«: »Die menschliche Moral wird als eine dünne Kruste

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